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Thema




        INTERVIEW         „IMMENSE KOSTEN FÜR DIE ZERTIFIZIERUNG EINER AKTENLÖSUNG“

          Sebastian Zilch, der Geschäftsführer des Bundesverbands Gesundheits-IT – bvitg e.V., bezieht Stellung zu den
          digitalen Vorhaben der Bundesregierung, die neben der Terminvergabe und anderen Versorgungsregelungen im
          neuen TSVG stehen.

                                                                                            SEBASTIAN ZILCH       Abb.: bvitg
          Î ÎSie haben sich ausführlich mit dem Telematik-Teil des TSVG beschäf-  fahren innerhalb der gematik könnten nun   Geschäftsführer des Bundesver-
          tigt. Welche Regelung ist Ihr Highlight?           transparenter und schneller werden. Wir   bands Gesundheits-IT – bvitg e.V.
          Mit Blick auf die Förderung von patientenorientierten E-Health-Anwendun-  werden die nächsten Reformschritte des
          gen bewerten wir die Verpflichtung der gesetzlichen Krankenkassen, ihren   BMG genau beobachten und prüfen, ob die Chance genutzt wurde.
          Versicherten spätestens ab dem 1. Januar 2021 eine gematik-zertifizierte
          elektronische Patientenakte (ePA) anzubieten, als einen wichtigen Meilen-  Î ÎWie realistisch ist es, dass die Industrie den Krankenkassen fristge-
          stein. Erst dadurch wird geregelt, wie die ePA eigentlich zu den Patienten   recht zum 1. Januar 2021 ePA-Lösungen zur Verfügung stellen kann?
          kommt.                                             Aktuell gehen die Hersteller von einer zeit- und ressourcenintensiven Um-
                                                             setzung der Spezifikation aus. Allein die Kosten der Zertifizierung einer Ak-
          Î ÎWo sehen Sie die größten Schwachpunkte?         tenlösung durch die gematik sind immens. Wenn man die Benutzeroberflä-
          Durch den Gesetzestext wird die eigentliche Zielsetzung, nämlich die Pa-   che im Sinne von Patienten und Ärzten verändern möchte, droht möglicher-
          tientensouveränität durch die Einführung einer ePA zu stärken, nicht best-  weise eine erneute Zertifizierung. Hinzu kommt, dass noch weitere Ände-
          möglich erreicht. Die derzeitige gesetzliche Regelung klammert die Vielfalt   rungen der Spezifikation seitens der gematik zu erwarten sind. Etablierte
          der Lebensverhältnisse der Versicherten aus. Es wird beispielsweise nicht   Anbieter müssen sich demnach überlegen, ob und wie sie eine Lösung an-
          möglich sein, dass in einer Familie mit unterschiedlichen Versicherungsver-  bieten wollen. Start-ups wird grundsätzlich durch die hohen Anforderungen
          hältnissen eine gemeinsame Akte genutzt wird, da die Kassen keine grund-  die Chance genommen, in den Wettbewerb einzusteigen.
          sätzliche Finanzierungspflicht haben. Zudem mahnen wir als Verband an,
          dass die Aktenangebote verschiedener Anbieter mit den Angeboten der   Î Î Die KBV soll allein für die Interoperabilität der ePA verantwortlich sein.
          Krankenkassen in einem fairen Wettbewerb stehen müssen. Eine Beschrän-  Wie steht der bvitg dazu?
          kung des Wettbewerbs hemmt das Potenzial für Innovationen, und es be-  Es ist unabdingbar, bei der Bestimmung von Interoperabilität auf bereits
          steht die Gefahr, dass bereits etablierte Lösungen verdrängt werden.  vorliegendes Wissen zurückzugreifen und die gewonnenen Erkenntnisse
                                                             nachweislich zu berücksichtigen. Bei jüngsten Spezifikationsprojekten im
          Î Î Welche Auswirkungen hat das neue Mehrheitsverhältnis in der   Aufgabenbereich der KBV wurde dies nicht zufriedenstellend umgesetzt. Im
            gematik auf die Zielsetzungen der Industrie?     Gegenteil: Unter hohem Ressourceneinsatz erarbeitete Lösungen gehen an
          Die Änderungen in der Gesellschafterstruktur der gematik bewerten wir   den Anforderungen des Marktes vorbei. Die KBV sollte daher bei ihren Fest-
          als überfällige Grundsatzentscheidung. Durch eine direkte, mehrheitliche   legungen einem nachvollziehbaren und transparenten Prozess folgen, der
          Teilhabe an der gematik übernimmt das Bundesgesundheitsministerium   das Wissen von Experten der Standardisierung aus Wissenschaft und Indus-
          (BMG) die Verantwortung für den Betrieb der Telematikinfrastruktur;   trie einvernehmlich einbezieht; und zwar von Anfang an. Nur so können Ak-
          gleichzeitig wird eine seit über 15 Jahren den Fortschritt hemmende Ge-  zeptanz geschaffen sowie in der Praxis anwendbare und kosteneffiziente Lö-
          sellschafterstruktur aufgebrochen. Es bietet sich mit der Regelung eine   sungen entwickelt werden, die im Ergebnis eine sichere und nutzenstiftende
          Chance zur Beschleunigung der Entscheidungsfindung. Prozesse und Ver-  vernetzte Gesundheitsversorgung ermöglichen.<




                                                  Ärzte müssen eine
        vieler Patienten, die inzwischen ihre Gesund-                          ePA, deren technische Spezifikationen von der
        heitsdaten auf Smartphone-Apps verwalten                               gematik entwickelt werden, verhält es sich
                                                   ePA verwenden,
        oder elektronische Gesundheitsakten (eGA)                              anders. Sie soll bundeseinheitlich gleiche
        nutzen (siehe Seite 16). Gesetzlich Versicherte   sofern ihre Patienten    Strukturen haben. Jeder Patient soll seine ePA
        sollen künftig ebenso komfortabel auf ihre                             ein Leben lang nutzen können. Im TSVG ist
        Daten in der künftigen ePA zugreifen können.   dies wünschen.          festgelegt, dass die KBV die inhaltliche Struk-
          Was unterscheidet die ePA von einer eGA?                             tur und die Semantik der ePA festlegt.
        Die Verwendung einer eGA ist weder für Pa-
                                                                               Die Zukunft der eGA
        tienten noch für Ärzte verpflichtend vorge-  zen, dass Praxisteams immer mit der gleichen
        schrieben. Anders sieht es mit der ePA aus, die  Oberfläche Daten mit ihren Patienten austau-  Viele Krankenkassen bieten ihren Patienten
        nur für Patienten freiwillig ist. Ärzte sind ver-  schen – unabhängig davon, welche ePA der  mittlerweile eGAs an. Was passiert mit diesen
        pflichtet, die ePAs ihrer Patienten zu verwen-  Patient im Einsatz hat. Überdies werden eGAs  Anwendungen, wenn die ePA kommt? Das TSVG
        den, sofern diese dies wünschen. Deshalb ist  von privaten Anbietern entwickelt und haben  erlaubt die Umwandlung der eGA in eine ePA,
        es wichtig, dass Praxissoftware-Anbieter die  deshalb unterschiedliche Strukturen, was wie-  setzt aber hohe Hürden. Denn im Unterschied
        ePA-Funktionalität in der Software so umset-  derum den Anbieterwechsel erschwert. Bei der  zur eGA, die eine reine Internetanwendung ist,

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