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Laborwerte in die Warnmel- peutischen Überlegungen unter-
dungen einzubeziehen.
Neben den Warnmeldun- stützen lässt, verliert er ja nicht
gen ist die kontextsensitive
Einbindung von Fachwissen seine Therapiefreiheit. Am
eine weitere Form der Ex-
pertensysteme, die im nie- Ende muss alles, was neue
dergelassenen Bereich an
Relevanz gewinnen könn- Methoden oder Experten-
te. Bei dieser Variante der
digitalen Unterstützung systeme auswerfen, inter-
kann der Arzt Fachwissen
wie etwa Leitlinien, aktuelle Abb.: Fotolia.com © kebox pretiert werden, es muss
Fachpublikationen oder auch
CME-Kurse über eine Art In- eingeordnet und auf den
fo-Button aus seiner IT heraus
öffnen, und zwar inhaltlich passend individuellen Patienten
zum jeweiligen Patienten und dessen
Erkrankungen. Hierzu dürften Pra- heruntergebrochen wer-
xis-IT-Hersteller künftig verstärkt mit
medizinischen Fachverlagen und ande- den. Wer soll das ma-
ren Anbietern von auf bereitetem evi-
denzbasiertem medizinischem Wissen chen, wenn nicht ein
kooperieren.
Auch in anderen Ländern gelten Ex- Arzt?“
pertensysteme für die Primärversor-
gung als interessante Optionen für die Der Arzt als letztendli-
Versorgung. Viel Bewegung gibt es im
Moment bei mobilen Apps, die sich an cher Entscheider nutzt Ex-
professionelle Nutzer, also Ärzte rich-
ten. So unterstützt die Fachgesellschaft pertensysteme wie ein Ultra-
der spanischen Dermatologen und Ve-
nereologen die App DermoMedia, die schallgerät, trifft auf Basis der
vor allem Hausärzte im Blick hat.
D ermoMedia ist eine Art interaktives zur Verfügung stehenden Infor-
Lehrbuch der Dermatologie, das hoch-
auflösende Bilder von vielen Hundert mationen sorgfältig seine Entschei-
Hauterkrankungen gespeichert hat. Das
Ganze ist hinterlegt mit einem Diagno- dungen und behält die Therapieverant-
sealgorithmus, der den Arzt bei unkla-
ren Hautbefunden durch die Datenbank wortung – das ist das Standardszenario,
und so zur richtigen Diagnose leitet. Die
Anwendung kostet in Spanien acht Euro Der Arzt bleibt das von vielen skizziert wird, die sich
und wurde dank fachgesellschaftlicher auch rechtlich
Empfehlung schon über 10 000 Mal her- in der Verantwortung. mit Expertensystemen beschäftigen. Es
untergeladen.
In einigen Ländern lassen sich mobi- also einen breit angelegten, diagnosti- ist aus naheliegenden Gründen auch
le Expertensysteme auch schon an die schen Algorithmus. Anders als einige
Informationssysteme der medizini- derartige Tools für die breite Bevölke- den Herstellern solcher Systeme sym-
schen Einrichtungen andocken. Ein rung bezieht diese App auch Befunde
Beispiel ist die US-amerikanische App und Parameter ein, die ärztlich erhoben pathisch. Denn es impliziert, dass der
VisualDx, die unter anderem Kranken- werden, etwa Laborwerte. Sie wird da-
häuser des US-Verteidigungsministeri- durch in den Händen professioneller Arzt auch rechtlich in der Verantwor-
ums nutzen. Bei der App handelt es sich Ärzte sehr präzise. Ein großer US-Her-
im Kern um einen „Symptom-Checker“, steller von Klinikinformationssystemen tung bleibt.
hat diese App bereits eingebunden. Sie
unterstützt professionelle IT-Standards Das ist bei vielen eher einfach ge-
wie FHIR und HL7. Auch das illustriert,
dass solche Lösungen in den USA sehr strickten Expertensystemen unstrittig:
ernst genommen werden.
Auch wenn eine Leitlinie oder ein digi-
Bleiben ethische und rechtliche Fra-
gen: Ist zum Beispiel die ärztliche The- taler Leitlinien-Algorithmus genutzt
rapiefreiheit in Gefahr, wenn zuneh-
mend Expertensysteme in die Patien- wird, muss der Arzt sich überlegen, ob
tenversorgung „einbezogen“ werden?
Johannes Schenkel von der Bundesärz- die Maßnahmen beim individuellen
tekammer glaubt nicht, dass das ein
zentrales Thema ist: „Aktuelle Orien- Patienten sinnvoll sind oder nicht. Und
tierungshilfen wie etwa Leitlinien wer-
den immer stärker nachgefragt, schon Warnungen eines AMTS-Systems müs-
aus forensischen Gründen. Nur weil
sich ein Arzt von einer Leitlinie oder sen – genauso wie externe Diagnosen,
eben einem Expertensystem in den
differenzialdiagnostischen oder thera- Laborwerte oder Befunde bildgebender
Untersuchungen – auf ihre individuel-
le Plausibilität hin überprüft werden.
Dennoch: Ganz so einfach, wie es man-
che darstellen, ist es nicht. Der Herstel-
ler eines Big-Data-Algorithmus für
konkrete Therapieempfehlungen wird
sich nicht aus der Mitverantwortung
stehlen können, wenn eine Empfehlung
danebenliegt. Ein solches Expertensys-
tem ist ein Medizinprodukt und fällt
dann unter das Medizinproduktege-
setz, was dem Hersteller eine Mithaf-
tung gibt. Auch deswegen konzentrie-
ren sich viele Aktivitäten rund um
Expertensysteme bisher auf die diag-
nostische und nicht auf die therapeuti-
sche Seite. Philipp Grätzel
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