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Interview „Es ist noch vieles unklar“ ?
Dr. Johannes Schenkel
Dr. Johannes Schenkel ist Neurologe und Referent
für Telemedizin im Dezernat „Telemedizin und
Telematik“ bei der Bundesärztekammer.
Abb.: Bundesärztekammer 1Frage
Antwort.
Medizinische Expertensysteme sind wieder en vogue, nachdem es ein paar Jahre lang etwas ruhiger um sie geworden war.
Werden Ärzte doch irgendwann durch Computer ersetzt?
Nein. Ich hatte dazu kürzlich ein interessantes Erlebnis auf einer Veranstaltung mit Informatikern, die genau diese These vertreten haben.
Ich habe sie gefragt, von wem sie sich künftig behandeln lassen würden, wenn sie ein dermatologisches Problem hätten: von einem Arzt
in einer Einzelpraxis, von einem Computersystem wie Watson oder von einem gut vernetzten Arzt, der bei Bedarf ein Expertensystem
zurate zieht. Alle nahmen den Letztgenannten. Expertensysteme sind kein Verdrängungsinstrument, sondern ein zunehmend notwendi-
ges Handwerkstool, eine weitere Innovation, die die Medizin voranbringt, ähnlich wie der Ultraschall. Die palpatorischen Fähigkeiten der
Ärzte sind vielleicht zurückgegangen, dafür können sie heute ein Ultraschallgerät bedienen. Expertensysteme sind Instrumente, die
Ärzten helfen, mit der immer größeren Datenflut fertig zu werden. Sie sind und werden keine Ärzte.
In welchen Bereichen werden sich Expertensysteme am ehesten durchsetzen?
Sie fangen ja längst an, sich durchzusetzen. Das sind im Moment eher hoch spezialisierte Bereiche, oft im Krankenhaus, in denen es
stark auf einen aktuellen Überblick über die Fachliteratur ankommt, Bereiche mit einer dynamischen klinischen Forschung. Als Erstes fällt
einem da die Onkologie ein. Da haben wir eine heterogene Datenlage, sehr viele Publikationen, und gleichzeitig ist es ein Gebiet, in dem
die patientenindividuelle Behandlung schon weit vorangeschritten ist.
Sind Ärzte für solche Ideen offen? Wie ist Ihr Eindruck?
Das ist schwer zu verallgemeinern. Es ist zum einen abhängig vom Fachgebiet und dann sicher auch von der Generation, der der
Arzt angehört. Jüngere Arztgenerationen haben in Studium und Facharztweiterbildung gelernt, digitale Informationsquellen wie etwa
PubMed professionell einzusetzen. Die tun sich damit dann auch später leichter.
Wie sieht es rechtlich aus? Sind die Verantwortlichkeiten bei Expertensystemen klar geregelt?
Das ist spannend, aber auch nicht einfach. Letztlich wird es sehr darauf ankommen, wie der Einzelfall aussieht. Grundsätzlich ist es wie
bei der Labordiagnostik oder bei einem Arztbrief: Der, der ein Ergebnis interpretiert oder damit arbeitet, muss die Plausibilität prüfen.
Aber: Ein Expertensystem, das therapeutisch genutzt wird, kann zum Medizinprodukt werden. Und dafür gilt wiederum auch das Medizin-
produktegesetz, das den Herstellern in bestimmten Situationen eine Mithaftung gibt.
Ist das für eine Institution wie die Bundesärztekammer ein Thema?
Das sind schon Themen, die in den Ärztekammern bewegt werden. Aber da ist auch noch viel unklar, und unsere Aufgabe ist, hier die
Patientenversorgung sinnvoll mitzugestalten. Am deutlichsten ist das im Moment im Bereich mHealth zu spüren – hier erleben wir immer
wieder Anbieter, die juristisch zu naiv an die Sache rangehen – zum Beispiel eine Diabetesplattform, die Empfehlungen für Insulindosie-
rungen geben wollte, für die das Medizinproduktegesetz aber ein Fremdwort war. Der Anbieter hat das dann sein gelassen, weil ihm das
juristisch zu unsicher war. Aber diese Entwicklung wird weitergehen. Stellen Sie sich vor, dass solche Plattformen künftig Blutzuckerwerte,
Daten von Bewegungstrackern und Ernährungsanalysen integrieren und daraus maßgeschneiderte Insulinempfehlungen ableiten.
Das ist medizinisch richtig spannend, aber juristisch auch richtig kompliziert.
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