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Titelgeschichte
INTERVIEW „WEARABLES KÖNNEN DIE LEBENSQUALITÄT MASSIV STEIGERN.“
Woran liegt es, dass intelligente Diabetespflaster zurzeit nur von Großkonzernen angeboten werden, und warum
sind viele medizinische Wearables in Deutschland nicht erhältlich? Christian Stammel, der mit seinem Unterneh-
men WT | Wearable Technologies zu den Pionieren dieser Branche zählt, kennt die Antworten.
CHRISTIAN STAMMEL
Î ÎWelchen Vorteil bieten medizinische Wearables? Î ÎEs fällt auf, dass viele medizinische Wea- Gründer und CEO von
Medizinische Wearables können die Lebensqualität massiv steigern. Beim rables in den USA oder in China, nicht aber WT | Wearable Technologies Abb.: WT | Wearable Technologies
Kleinkind eines Freundes zum Beispiel trat plötzlich genetisch bedingt bei uns erhältlich sind. Woran liegt das?
Diabetes Typ 1 auf. Um den kleinen Patienten einzustellen, mussten die Das hat mehrere Ursachen. Diese Länder sind für die Hersteller attraktiver,
Eltern den Blutzuckerspiegel anfangs sogar fünf bis sechs Mal in der Nacht weil sie nur eine Zulassung benötigen, um einen riesigen Markt zu bedie-
messen. Dazu haben sie das Kind jedes Mal aufgeweckt. Jetzt verwenden nen. In Europa müssen sie nach der Zulassung noch Anpassungen an die
sie ein intelligentes Pflaster, das den Blutzucker automatisch misst und die Besonderheiten der einzelnen Länder vornehmen, beispielsweise an die
Daten an ein Auswertegerät überträgt. Das Kind muss nicht mehr geweckt unterschiedlichen Gesundheitssysteme. Hinzu kommen bürokratische Hin-
werden und die besorgten Eltern können jederzeit den aktuellen Wert auf dernisse, die eine Zulassung kompliziert machen, wie zum Beispiel das
dem Gerät ablesen. Batterierückführungsgesetz, das in jedem EU-Land anders geregelt ist.
Eine weitere Hürde stellt die EU-Medizinprodukte-Verordnung dar. Viele
Î ÎGroße Pharmakonzerne sind mit Diabetespflastern bereits am Markt, Wearables, die bislang zur Risikoklasse I zählten, müssen in Zukunft ein
während sich kleinere Anbieter schwertun. Woran liegt das? Zertifizierungsverfahren durchlaufen, weil sie unter die Risikoklasse IIa
Die Anwendungen für Diabetiker sind sehr kritisch, weshalb die Zulassung oder sogar III fallen.
als Medizinprodukt sehr lange dauert und kostenintensiv ist. Viele Inves-
toren bringen nicht diese Geduld auf. Sie drängen die Start-ups dazu, zu- Î ÎWo kann sich ein Arzt über medizinische Wearables informieren,
nächst frei verkäufliche Produkte anzubieten. Großkonzerne haben es ein- die für seine Patienten infrage kommen?
facher, weil sie über die finanziellen Mittel verfügen, um ein Wearable in Mir ist leider keine Stelle bekannt, die alle Wearables auflistet, die in
wenigen Jahren zur Marktreife zu entwickeln und als Medizinprodukt zu- Deutschland als Medizinprodukt zertifiziert sind. Vielleicht gibt es bei den
zulassen. Es gibt aber noch einen anderen Punkt. Die großen Anbieter ver- Zertifizierungsstellen ein Register, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass
wenden minimalinvasive Technologien, die am Markt bereits verfügbar ein niedergelassener Arzt dort nachschaut. Angesichts der zunehmenden
sind, während die Start-ups an nichtinvasiven Messverfahren arbeiten. In Nachfrage wäre eine zentrale Informationsquelle sicherlich wünschens-
anderen Bereichen haben Start-ups bereits erfolgreiche Zulassungen am wert. Wer sich generell über Wearables informieren möchte, auch über
Markt, beispielsweise bei der Messung von Herzfrequenz, Lungenkapazi- solche, die noch nicht in Deutschland zugelassen sind, kann unsere Home-
tät, Körpertemperatur oder Hautfeuchtigkeit. page (Anm. d. Redaktion: C WEARABLE-TECHNOLOGIES.COM) besuchen.<
wird über diesem Implantat angebracht und die lästige Verkabelung aus. Eher wie ein Pflas- einen bevorstehenden Anfall, beginnt das Wea-
liest die Blutzuckerwerte ebenfalls kontinu- ter im herkömmlichen Sinn sieht dagegen der rable zu vibrieren. Die Daten lassen sich auf
ierlich aus. Dieses Verfahren soll (weil implan- EKG-Sensor eines Chipherstellers aus dem das Smartphone oder in eine Cloud hochladen.
tiert) genauere Messwerte liefern. Völlig ohne Silicon Valley aus, der ein 2- und 3-Kanal-EKG Zurzeit laufen mehrere Studien mit ADAMM,
die Haut zu verletzen arbeitet noch keine Blut- aufzeichnet und sowohl für den Heimbereich unter anderem an der Yale School of Medicine.
zuckermessung. „Ich habe in den vergangenen als auch für den klinischen Einsatz entwickelt
Intelligente Accessoires
zwölf Jahren rund 20 Start-ups kennengelernt, wurde. Nachdem der Sensor im vergangenen
die Konzepte für eine nichtinvasive Blutzu- Jahr eine Zulassung in den USA erhalten hat, Es muss nicht immer ein Pflaster sein. Auch
ckermessung vorgelegt haben“, sagt Stammel. sollen ihn jetzt Drittanbieter in ihre Weara- Armbanduhren, Brillen, Ohrhörer oder T-Shirts
„Aber diese verschiedenen technischen Kon- bles-Anwendungen einbauen. können zum Wearable „aufgebohrt“ werden.
zepte brauchen noch ein paar Jahre bis zur Das intelligente Asthmapflaster ADAMM Die Apple Watch, einst als Lifestyle-Produkt
Marktreife.“ des Unternehmens Health Care Originals wird gestartet, hat inzwischen das Potenzial, Pati-
Herz-Kreislauf-Patienten profitieren eben- ebenfalls auf die Haut geklebt und hört die Lun- enten vor Vorhofflimmern zu warnen. In einer
falls von intelligenten Pflastern. Bereits in ge wie eine Art drahtloses Stethoskop ab, um Megastudie der medizinischen Fakultät der
Deutschland erhältlich ist das Qardiocore des das Atemmuster und die Hustenrate zu messen. Universität Stanford mit über 400 000 Proban-
US-Herstellers Qardio. Es ist kein Pflaster im Sensoren erfassen außerdem weitere Parame- den hat der optische Pulssensor der Uhr kon-
herkömmlichen Sinn, sondern ein vergleichs- ter wie etwa Herzschlag oder Körpertempera- tinuierlich die Blutmenge erfasst, die durch das
weise dickes Kunststoffteil, das etwas fester tur. Die Auswertung dieser Daten durch einen Handgelenk fließt. Auf diese Weise konnte die
aufgeklebt wird und fortlaufend ein 1-Ka- Algorithmus erfolgt direkt im Wearable, damit Smartwatch zu jedem gemessenen Zeitpunkt
nal-EKG aufzeichnet. Es eignet sich für die der Patient nicht auf ein weiteres Gerät ange- Puls und Herzrhythmus berechnen und die
Messung von Langzeit-EKGs, kommt aber ohne wiesen ist. Erkennt die künstliche Intelligenz Probanden bei auftretenden Herzrhythmusstö-
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