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Titelgeschichte
INTERVIEW KI IN DIE REGELVERSORGUNG
Klaus Juffernbruch ist Professor für Gesundheit und Soziales an der Hochschule für Ökonomie und Management
FOM in Neuss. Der Arzt und Informatiker leitet außerdem die Expertengruppe „Intelligente Gesundheitsnetze“
des Digital-Gipfels der Bundesregierung.
Abb.: FOM
PROF. DR. KLAUS
Î ÎWelche Beispiele für den Einsatz von künstlicher Intelligenz in der künstliche Intelligenz in der Medizin den Arzt JUFFERNBRUCH
Medizin haben Sie in jüngster Zeit am meisten beeindruckt? ersetzen und wo nicht? FOM
In der klinischen Anwendung sind es die Beispiele aus der medizinischen In der Therapeuten-Patienten-Interaktion sollte der Arzt nicht zwangsläufig
Bildgebung, in denen die künstlichen Intelligenzen nach kurzer Trainingszeit durch eine KI ersetzt werden. Hier sollte der Patient nach Möglichkeit immer
für bestimmte Fragestellungen bessere Ergebnisse lieferten als menschliche die Wahl haben, ob er lieber mit einer Maschine oder einem menschlichen
Fachärzte. Dazu gehören unter anderem die Interpretation von Röntgentho- Gegenüber seine gesundheitlichen Probleme bespricht. In jedem Fall wer-
rax-Befunden und die Hautkrebsdiagnostik. In der häuslichen Anwendung den KI-Systeme im Hintergrund als Zweitmeinung für jeden Arzt unentbehr-
des Patienten haben mich die Ergebnisse des Tricorder XPRIZE beeindruckt, lich werden. Beginnend bei der Befundung von Bildmaterial über die Inter-
Abb.: iStockphoto.com © Ranta Images heben und daraus mit KI-Unterstützung Erkrankungen wie Mittel- pieplanung wird es in einigen Jahren im Schadensfall als Kunstfehler gewer-
pretation von Laborwerten und anamnestischen Angaben bis hin zur Thera-
bei dem es darum ging, mit nichtinvasiven Methoden Patientendaten zu er-
tet werden, wenn der Arzt nicht nachweisen kann, dass er in seinem Ent-
ohrentzündung, Schlafapnoe, COPD, Diabetes oder Vorhofflimmern zu er-
scheidungsprozess entsprechend zugelassene KI-Systeme berücksichtigt hat.
kennen beziehungsweise auszuschließen.
ÎDie allermeisten KI-Anwendungen kommen aus den USA.
Î Wo sehen Sie konkret interessante Einsatzszenarien
Î
Was muss politisch passieren, damit wir nicht auch bei diesem Thema
in der ambulanten Medizin?
den Amerikanern das Feld überlassen?
Ich gehe davon aus, dass wir Zusatzmodule für Î
Praxissoftware bekommen werden, die aus Wer KI-Systeme für den deutschen Markt entwickeln will, braucht gut aus-
den Daten in der Patientenakte automatisch Dia- gebildete KI-Spezialisten, Startkapital und die Aussicht, Einnahmen zu gene-
gnose- und Therapievorschläge generieren. Das rieren. Zur Ausbildung der Spezialisten brauchen wir entsprechende Kapazi-
beschleunigt die Versorgung und gibt dem täten an den Hochschulen. Anschubfinanzierung für die Entwicklung kann
Arzt zusätzliche Sicherheit. Diabetiker wer- aus öffentlichen Fördermitteln kommen oder von Wagniskapitalgebern. Zu-
den von einer KI, die die kontinuierliche mindest beim einfachen Zugang zu Wagniskapital sind uns die USA weit vor-
Blutzuckermessung überwacht, vor einem aus. Die Generierung von laufenden Einnahmen aus dem Verkauf des Pro-
drohenden hypo- beziehungsweise hyper- duktes sehe ich als größtes Hindernis. Der Weg in die Regelversorgung ist
glykämischen Koma gewarnt. Menschen, lang, steinig und höchst ungewiss. Politisch sollte dieser Weg beschleunigt
die ihre Werte von Tricorder-ähnlichen Gerä- werden, indem ein KI-unterstütztes Verfahren kurzfristig in die Regelversor-
ten monitoren lassen, werden beru- gung übernommen und finanziell besser vergütet wird als der herkömmli-
higt sein und sich überflüssige che Weg ohne KI, wenn a) die medizinischen Ergebnisse mit KI besser sind
Wege und Wartezeiten er- als ohne, b) das KI-Verfahren bei mindestens gleicher medizinischer Qualität
sparen, wenn die Sympto- kostengünstiger oder schneller ist oder c) das KI-Verfahren bei mindestens
me harmlos sind, und an- gleicher medizinischer Qualität die Lebensqualität der Patienten verbessert.
dererseits schneller den
Arzt aufsuchen, bevor Î ÎWo sehen Sie konkret Handlungsansätze auf Ebene der Ärzteschaft?
sich die Krankheit ver- In den USA haben die National Institutes of Health (NIH) in diesem Herbst ei-
schlimmert. nen annotierten Datensatz von mehr als 100 000 Thoraxübersichtsaufnah-
men veröffentlicht, der von Forschungseinrichtungen und Firmen zum Trai-
Î Î Frage an den ning von KI-Systemen genutzt werden kann. Ähnliche Datensätze könnten
ehemaligen Klini- medizinische Fachgesellschaften, zum Beispiel im Verbund mit dem DIMDI,
ker: Wo wird die für ihre jeweiligen Fachgebiete erarbeiten und zur Verfügung stellen.<
für Künstliche Intelligenz in Saarbrü- Eine ganz andere Frage ist, ob Mustererken-
cken um den Einsatz von KI in der Me- nung schon „Intelligenz“ konstituiert. Die meis-
dizin kümmert. Diese „Mustererken- ten Experten verneinen das oder schränken es
nung“ ist Grundlage vieler menschlicher zumindest ein. So weist Sonntag darauf hin,
Lernvorgänge, und sie ist ein wesentli- dass zentrale Komponenten der menschlichen
cher Bestandteil der fachlichen Kompetenz Intelligenz, namentlich die sensomotorische
von beispielsweise Radiologen und Pathologen. und die emotional-soziale Intelligenz, über
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