Page 13 - xpress_Ausgabe 20.3
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Titelgeschichte
quenzen ein. Der Patient drückt mit seinem sein Smartphone und startet seinen Symptom- App hat er schon mehrmals benutzt. Ohne einen
Finger einen Software-Button auf dem Smart- checker. Er hat sich angewöhnt, in solchen Fäl- Termin online zu buchen, wählt er auf der App
phone-Display und hält den Button so lange len zuerst eine Symptomanalyse durchzufüh- seinen Hausarzt, Dr. Schwerdtfeger, an und lan-
gedrückt, wie er den Ton hört. Zurzeit ist bei ren, bevor er sich an seinen Arzt wendet. So det im virtuellen Wartezimmer. Nach ein paar
ihm noch alles im grünen Bereich. weiß er nicht nur in wenigen Minuten, was ihn Minuten wird er zum virtuellen Arztgespräch
Den fiktiven Patienten ängstigt darüber möglicherweise erwartet. Die Fragen, die die aufgerufen. Sein Arzt begrüßt ihn auf dem Dis-
hinaus die Vorstellung, in seinem Körper könn- App ihm stellt, bereiten ihn auf das Gespräch play und fragt nach dem Grund seines Besuchs.
te es einige „tickende Zeitbomben“ geben. Seit mit seinem Arzt vor. Nach einer kurzen Erläuterung hält Wollny das
er erstmals bei der Hautkrebsvorsorge war, Der Symptomchecker geht im Prinzip ge- Kameraobjektiv seines Smartphones vor die
dokumentiert er seine kritischen Stellen mit nauso vor wie sein Arzt bei der Anamnese, Wunde. Der Arzt inspiziert auf seinem Monitor
einer App zur Hautkrebsprävention. Auf eine indem er gezielt nach Symptomen fragt – wie das hochaufgelöste Bild der Wunde. „Haben
Auswertung der Bilder durch den Vergleich mit zum Beispiel, seit wann er die Wunde hat, ob Sie Fieber?“ Der Patient misst seine Körper-
Referenzaufnahmen, die in einer Datenbank es sich um eine offene Wunde handelt, wie temperatur und teilt Dr. Schwerdtfeger das
hinterlegt sind, verzichtet er jedoch. Er geht stark und von welcher Art die Schmerzen sind, Ergebnis mit. Anschließend ruf t Dr.
lieber auf Nummer sicher und zeigt die Aufnah- ob die verletzte Stelle warm ist oder ob er Fie- Schwerdtfeger in seiner Praxissoftware das
men seinem Dermatologen bei der regelmäßi- ber hat. Die Symptomanalyse rät dem Patien- ärztliche Entscheidungsunterstützungssys-
gen Hautkrebsuntersuchung. ten, einen Arzt zu kontaktieren. tem auf und beginnt, den Patienten nach seinen
Symptomen zu fragen. Der Patient ist durch
4. Diagnose 5. Patient-Arzt-Beziehung die Benutzung des Symptomcheckers auf die
Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ist es pas- Wollny wohnt auf dem Land. Die Fahrt ins Fragen des Arztes gut vorbereitet, sodass die-
siert: Wollny hat sich am rechten Bein verletzt. nächste Krankenhaus kommt für ihn aufgrund ser Teil der Untersuchung schnell abgeschlos-
Was am Abend zuvor noch wie eine harmlose der großen Entfernung nicht in Betracht. Und sen werden kann.
Wunde aussah, war am nächsten Morgen stark mit seinem entzündeten Bein möchte der Pa-
6. Behandlungsphase
gerötet und angeschwollen. Zudem wurde die tient nur ungern zu seinem Arzt in die nächst-
Wunde heiß und begann zu schmerzen. Als größere Stadt fahren. Früher hätte er das tun Da es sich um eine relativ kleine und noch fri-
Diabetiker weiß Wollny, dass Wunden bei ihm müssen. Seit der Corona-Pandemie aber bietet sche Wunde handelt, bestellt der Arzt den Pati-
nicht so leicht heilen und zu einem ernsten die Praxis ihre Notfallsprechstunde auch on- enten vorerst nicht ein. Die schon vor Jahren von
Problem werden können. Routiniert zückt er line an. Die hierfür erforderliche Smartphone- Anbietern der Online-Videosprechstunde
INTERVIEW INTERVIEW MIT DEM BEHANDELNDEN ARZT DR. JAN SCHWERDTFEGER
Î ÎViele Ihrer Patienten nutzen inzwischen intensiv digitale Dienste und Î ÎGeht durch die Videosprechstunde ein Stück
Anwendungen, um Ihnen Daten zukommen zu lassen. Wie bewältigen Sie Menschlichkeit verloren?
diese Informationsflut? So habe ich das noch nicht empfunden. Wenn ich mit den
Die Datenmenge bereitet mir heute keine Probleme mehr. Viele der Daten Patienten nur noch chatten könnte, wäre das sicherlich so.
werden automatisch in die Patientenakten eingeordnet und stehen mir zur Aber bei der Videosprechstunde sehe ich ja den realen Menschen und
Vorbereitung für eine Untersuchung zur Verfügung. Außerdem bespreche nicht seinen Avatar – er befindet sich nur nicht im selben Raum. Meinen Abb.: iStock.com © DrAfter123
ich mit meinen Patienten, welche Daten wirklich notwendig sind. Unmittel- Patienten geht es genauso, und das sagen sie mir auch, wenn sie in mei-
bar kümmern muss ich mich nur um die Warnmeldungen, die mir Patienten nem Sprechzimmer sitzen. Im Übrigen kann ich nicht jede Untersuchung
und Dienstleister zusenden. Das sind nicht so viele. aus der Ferne durchführen. Manchmal ist eine Berührung, beispielsweise
beim Testen der Reflexe, unumgänglich. Ich sorge bewusst dafür, dass ich
Î ÎKommen insgesamt weniger Patienten in Ihre Praxis, weil viele von meine Patienten auch persönlich sehe.
ihnen einen Symptomchecker verwenden?
Davon kann überhaupt keine Rede sein. Mein Wartezimmer ist voll. Und es Î ÎKönnten Sie sich vorstellen, auf Ihr ärztliches Entscheidungsunter-
sind nicht nur die betagten Patienten, die mit der Technik überfordert sind. stützungssystem zu verzichten?
Meine Patienten möchten sich nicht nur auf eine App verlassen, auch wenn Ich bin früher auch ohne ausgekommen. Der entscheidende Punkt ist, dass
sie diese sehr nützlich finden. Im Übrigen bin ich vor allem während der Er- viele Patienten es heute von mir verlangen. Ich benutze diese Software
kältungszeit froh, wenn meine Patienten nicht wegen jeder Bagatelle in die auch, um den Patienten ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Es gibt aber
Praxis kommen und andere Patienten oder meine Mitarbeiter mit einem noch einen handfesten wirtschaftlichen Aspekt. Wenn ich mir bei einer Dia-
grippalen Infekt anstecken. Einfache Dinge kläre ich ganz gerne mittels Vi- gnose nicht sicher war, habe ich früher in meinen Wälzern geblättert. Mit
deosprechstunde. Außerdem beginnt meine Arbeit so richtig erst dann, der Entscheidungsunterstützungssoftware gelange ich heute viel schneller
wenn ich die Diagnose erstellt habe. zu einem Ergebnis.<
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