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Titelgeschichte




        INTERVIEW         „WENN ES MAL RICHTIG FUNKTIONIERT, WIRD DAS GENIAL“

          Der Allgemeinmediziner Dr. Nicolas Kahl betreibt in Nürnberg eine Hausarztpraxis. Er gehört zu den ersten Ärzten in
          Deutschland, die bereits Erfahrung mit der elektronischen Patientenakte (ePA) sammeln konnten. An einigen Stellen sieht
          er noch Verbesserungspotenzial.



          Î 	Sie waren bei Anwendungen wie eRezept und der elektronischen    das für ein Dokument ist. Ansonsten landet es unsortiert in   DR. NICOLAS KAHL   Abb.: Dr. Nicolas Kahl
                                                                                                   Allgemeinmediziner
          Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine Vorreiterpraxis. Warum sind Sie   der elektronischen Akte. Das ist auf Dauer nicht ideal, denn   in Nürnberg
          bei der Digitalisierung so engagiert?              dadurch kann es sehr unübersichtlich werden. Das Hochla-
          Digital affin waren wir hier schon immer, ich hatte auch zusammen mit mei-  den klappt zudem noch nicht bei allen Dokumententypen. Der Medikations-
          nem Bruder mal einen YouTube-Kanal für Patientenaufklärung gemacht. Was  plan geht, der Laborbefund im Moment nicht. Gescannte Dokumente aus un-
          die Telematikanwendungen angeht: Wir sagen uns, wir werden das bald eh   serem Archivierungsprogramm funktionieren auch nicht. Kurz: Es gibt schon
          können müssen, da können wir auch früh anfangen. Das ist schon teilweise   noch einige Verbesserungsmöglichkeiten.
          etwas Arbeit, aber wir haben bisher noch Lust, da mitzumachen.
                                                             Î 	Was halten Sie als Allgemeinmediziner prinzipiell von dem Konzept
          Î 	Haben Sie bisher, Stand Anfang März, schon Erfahrungen mit    einer ePA?
          elektronischen Patientenakten?                     Wenn das mal richtig funktioniert, dann wird das genial. Wenn wir irgend-
          Vereinzelt. Ich habe vier Patienten, die mich freigegeben haben, und drei,   wann in Praxen und Krankenhäusern alle gemeinsam auf die gleichen Doku-
          bei denen ich mit der Akte gearbeitet habe. Einer von den dreien war ein Pa-  mente zugreifen können, ist das superhilfreich. Dann rufen weniger Leute aus
          tient, der von sich aus berichtet hat, dass er eine ePA habe. Dem haben wir   dem Krankenhaus an, die den Katheterbefund von vor drei Jahren suchen, ich
          spontan vorgeschlagen, ein EKG hochzuladen – vor allem auch, um zu sehen,   muss Medikationsplänen weniger hinterhertelefonieren und so weiter. Bis da-
          ob es funktioniert. Die anderen beiden waren Patienten mit einem eigenen   hin ist es allerdings noch ein Stück Weg. Es muss zum Beispiel gewährleistet
          Interesse für die Materie. Kurz gesagt: Das ist noch sehr übersichtlich bisher.  sein, dass bestimmte Kerndaten, wie etwa der Medikationsplan, auch wirklich
                                                             aktuell sind. Und dazu müssen nicht nur wir Praxen, sondern vor allem auch
          Î 	Wie läuft das technisch in der Praxis ab?       die Krankenhäuser an ihren digitalen Strukturen arbeiten.
          Patientin oder Patient müssen mich als Erstes freischalten. Wenn sie das in der
          App machen, ist das recht elegant und ich habe damit keine Arbeit. Wenn es   Î 	Seit der ePA-Version 2.0 können Patientinnen und Patienten ihren
          erst hier in der Praxis am Kartenleser passiert, ist das etwas umständlicher,   Behandlern Zugriffsrechte auf Ebene einzelner Dokumente erteilen.
          dann braucht es eine PIN-Eingabe. Beim ersten Öffnen der ePA dauert es 15 bis  Wie stehen Sie dazu?
          20 Sekunden – das liegt wohl an den gematik-Vorgaben. Wenn ich dann am   Ich finde es vollkommen nachvollziehbar, dass Patienten selbst entscheiden
          selben Tag noch mal die Akte öffne, geht es ruckzuck. Das Hochladen des EKGs   wollen, welches Dokument von welchem Behandler gelesen werden darf. Das
          selbst verläuft auch fix. Ein Problem ist, dass ich bei Dokumenten wie den   läuft in der analogen Welt genauso. Ein zugriffsdokumentierter „Notfall-Lese-
          EKGs, die nicht direkt vom PVS erzeugt werden, zusätzlich angeben muss, was   modus“ wäre für unerwartete Notfälle natürlich wünschenswert.<




        anwendungen (DiGA) geht – als sei alles ande-  undenkbar wäre, ist klar: Seine Erfahrungen  Jahre lang Vorstandsmitglied im Aktionsbünd-
        re schon längst erledigt.          mit dem praktischen ePA-Einsatz im realen Ge-  nis Patientensicherheit war und bei der Unab-
                                           sundheitswesen sind so durchwachsen wie bei  hängigen Patientenberatung Deutschland
        Abgehobene Diskussion um die ePA   fast allen anderen. „Bis heute speichern wir nur  (UPD) für Kooperationen und digitale Trans-
        Vielleicht ist diese Abgehobenheit der politi-  selbst digitalisierte und dann hochgeladene  formation zuständig ist: „Ich nutze meine Arzt-
        schen  ePA-Diskussion  ja  mehr  als  nur  ein  Dokumente. Ich war bisher bei keinem einzigen  kontakte, um in Sachen ePA zu sondieren. Aber
          Symptom der chronischen Erkrankung na-  Arzt, der in der Lage gewesen wäre, aus seinem  wenn ich zum Beispiel bei der Zahnärztin oder
        mens „Digitalisierung des deutschen Gesund-  System Daten oder Dokumente aufzuspielen.“  beim Zahnarzt das elektronische Zahnbonus-
        heitswesens“. Vielleicht führt das sehr deut-  Auch das Zurverfügungstellen von Daten klap-  heft anspreche, dann ernte ich ein Lachen – und
        sche, ständige sozialgesetzliche und daten-  pe nicht zuverlässig, was das Ehepaar Merx bei  am Ende bleibt es doch beim Stempel.“ Weigand
        schutzrechtliche Theoretisieren, das mitunter  einem Arzt in Berlin erlebte, mit dem zuvor  betont, dass es aus UPD-Sicht einen Rechtsan-
        exzessive Mitdenken von allen möglichen, re-  vereinbart worden war, dass er die Unterlagen  spruch auf das Hochladen von Befunden und
        levanten und weniger relevanten Szenarien, zu  von Michaela Merx einsehen sollte: „Das war  Dokumenten in die ePA durch die Vertragsarzt-
        einer so ausgeprägten Distanz von der Basis  ziemlich unangenehm. Wenn das nicht funkti-  praxen gibt: „Nur was mache ich, wenn die
        und dem, was eigentlich den Kern einer ePA  oniert und in der Praxis sind drei Leute eine  Praxis sagt, sie macht das nicht oder sie will
        ausmachen sollte, dass die Grundlagen schlicht  halbe Stunde lang beschäftigt, dann dreht der  das nicht?“ Patientinnen und Patienten können
        vernachlässigt werden?             Arzt durch und macht so etwas nie wieder.“  dann Beschwerde bei der zuständigen Kassen-
          Bei aller Begeisterung, die Merx ausstrahlt   Bestätigt wird diese „ePA-Realität Stand  ärztlichen Vereinigung einlegen. Ob das etwas
        und ohne die ein Projekt wie das ePA-Magazin  März 2022“ von Marcel Weigand, der mehrere  bringt, ist eine andere Frage.

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