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THEMA
INTERVIEW DiGA sind in der Versorgung angekommen
Dr. Anne Sophie Geier, Geschäftsführerin des Spitzenverbandes Digitale Gesundheitsversor-
gung, spricht im Interview darüber, wie digitale Therapien die Versorgung bereichern.
Seit drei Jahren gibt es in Deutschland die Außerdem müssen sie den Nachweis erbringen,
„App auf Rezept“. Wie lautet Ihre Bilanz? dass sie mit der DiGA einen positiven Versor- DR. ANNE SOPHIE GEIER
Seit Herbst 2020 haben etwa 370 000 Patientinnen gungseffekt erzielen. Wenn sie den medizini-
Leiterin Spitzenverband
und Patienten ihre Freischaltcodes eingelöst. Die schen Nutzen nicht von Anfang an belegen kön- Digitale Gesundheitsversorgung
DiGA sind also in der Versorgung angekommen. nen, können sie eine vorläufige Aufnahme bean-
Wir bekommen zahlreiche positive Rückmeldun- tragen. Dafür benötigen sie eine vom BfArM ge-
gen: von den Herstellern selbst, den Patientinnen prüfte, abgeschlossene Vorstudie. Innerhalb ei-
und Patienten, aber auch von Ärztinnen und Ärz- nes Erprobungszeitraums von einem Jahr, manch- akzeptieren wir, dass Neuheiten einige Zeit brau-
ten, die DiGA sehr gut ergänzend zu den bisheri- mal auch von zwei Jahren, müssen sie dann eine chen, bis sie in der Versorgung gang und gäbe
gen Behandlungsmöglichkeiten einsetzen können. größere vergleichende Studie durchführen. Aktu- sind. Zwischendurch hatten wir eine Pandemie,
ell sind 53 DiGA im Verzeichnis gelistet, 29 davon die möglicherweise den Fokus auf andere Dinge
Inwiefern können DiGA Patient und Arzt dauerhaft, die anderen vorläufig. Bei allen dauer- gelenkt hat. Statt zu beklagen, was noch nicht per-
unterstützen? haft aufgenommenen DiGA entspricht die Evi- fekt läuft, sollten wir uns darüber freuen, dass
DiGA helfen, Versorgungslücken zu überbrücken Deutschland ein Vorreiter ist und einen Prozess
– und das nicht nur im Hinblick auf den sich ver- etabliert hat, der funktioniert: Die DiGA kommen
schärfenden Ärztemangel. Sie ermöglichen Be- ins Verzeichnis, ihr Nutzen wird in einer größeren
handlungsoptionen, die es sonst nicht gäbe. Den- Studie nachgewiesen, und wenn das in seltenen
ken wir an den psychotherapeutischen Bereich: Deutschland ist Fällen nicht gelingt, werden sie wieder gestrichen.
Therapieplätze sind rar, die Wartezeiten lang. das erste Land, Das ist großartig!
DiGA können da eine große Unterstützung sein.
In der Physiotherapie ist es ähnlich. Teilweise müs- das DiGA Trotzdem: Glauben Sie, dass das Digital-
sen die Patientinnen und Patienten sehr lange eingeführt hat. Gesetz den DiGA zu mehr Rückenwind verhilft?
Fahrtwege auf sich nehmen, um sich behandeln Es ist sehr positiv, dass hybride Therapien – also
zu lassen. DiGA für Rückenschmerzen oder Knie- die Kombination aus App und ärztlicher Behand-
probleme ermöglichen Krankengymnastik zu lung – gestärkt werden sollen. Bislang musste der
Hause in den eigenen vier Wänden, zur selbstge- digitale Part im Vordergrund stehen. Wenn Ärztin-
wählten Zeit und im eigenen Rhythmus. Gestützt denz höchsten wissenschaftlichen Standards, nen und Ärzte über die DiGA mit ihren Patientin-
auf künstliche Intelligenz, gehen die Apps auch sprich die Hersteller haben randomisierte, kon- nen und Patienten interagieren und die Behand-
noch auf die individuellen Möglichkeiten und Be- trollierte klinische Studien durchgeführt. Damit lung besser überwachen können, werden sie diese
dürfnisse des Patienten oder der Patientin ein. Es sind sie weit über die gesetzlichen Anforderun- Chancen auch nutzen. Zumal es in diesem Jahr
gibt auch Indikationen, für die es bislang nicht gen hinausgegangen, denn dafür würden auch möglich werden soll, dass die DiGA-Daten eines
viele Hilfen für die Betroffenen gab, beispielswei- Vergleichsstudien mit geringerer Evidenz ausrei- Patienten automatisch in seine elektronische Pa-
se Adipositas oder Tinnitus. Indem sie dabei un- chen. Nur bei sechs vorläufig aufgenommenen tientenakte (ePA) einfließen. Von großem Vorteil
terstützen, eine Verhaltensänderung einzuleiten, DiGA konnte der medizinische Nutzen bislang ist außerdem, dass die Krankenkassen den Frei-
können digitale Therapien diese Erkrankungen di- nicht belegt werden – sie wurden wieder aus dem schaltcode nun innerhalb von zwei Tagen an den
rekt an der Wurzel packen – gehen also weit da- DiGA-Verzeichnis gestrichen. Patienten oder die Patientin übermitteln muss.
rüber hinaus, lediglich mit Medikamenten die Das hat in der Vergangenheit manchmal mehrere
Symptome auszuschalten. 370 000 DiGA-Verordnungen in drei Jahren Wochen gedauert – ein Unding! Daneben würde
fallen gegenüber 50 Millionen Arzneimittelver- ich für eine breit angelegte Informationskampag-
Kostenträger bemängeln allerdings immer ordnungen pro Monat kaum ins Gewicht. Worauf ne plädieren. Wenn jetzt all diese Neuerungen im
wieder die fehlende Evidenz der digitalen führen Sie das zögerliche Nutzungsverhalten Gesundheitssystem ankommen – die ePA, das
Therapien. zurück? eRezept, DiGA, digitale Pflegeanwendungen –
Absolut unberechtigt! Damit DiGA in das BfArM- Ich teile diese Einschätzung nicht. Deutschland ist dann müssen wir alle Menschen dabei mitneh-
Verzeichnis aufgenommen werden, müssen die das erste Land, das DiGA eingeführt hat. Es gibt men. Im Grunde brauchen wir dafür so etwas wie
Hersteller nachweisen, dass ihre Anwendung die überhaupt keinen Maßstab, an dem wir messen die Impfkampagne bei Corona: Schulungen für das
gesetzlichen Anforderungen an Datenschutz, In- könnten, wie viele Verordnungen in welcher Zeit Fachpersonal, aber auch niederschwellige Patien-
teroperabilität und Nutzerfreundlichkeit erfüllt. ein Erfolg wären. Bei Medikamenten sehen und teninformationen.<
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