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Thema
DIGITALE ZWILLINGE
Wie virtuelle Doppelgänger
Ein neues Thema begeistert Digital-Health-Enthusiasten: Digitale Zwillinge sollen die Medizin auf ein neues,
durch und durch personalisiertes Level heben. Doch bis an virtuellen Patientenkopien routinemäßig der Verlauf
von Therapien simuliert werden kann, wird noch einige Zeit verstreichen.
ouston, wir haben ein Problem.“ Diesen stil auf seine Gesundheit auswirkt. Mediziner- res Computermodell generiert. In Zusammen-
Funkspruch sendete die Besatzung der innen und Mediziner können daran testen, ob arbeit mit der Chirurgischen Klinik des Uni-
HApollo 13 am 13. April 1970 an das Kon- und wie Medikamente wirken. Auch den Thera- versitätsklinikums Erlangen ist ein Prototyp
trollzentrum der NASA. In der Rakete war ein pieerfolg können sie so simulieren und vorher- entstanden, der speziell an die Bedürfnisse von
Sauerstofftank explodiert. Die geplante Mond- sagen. Digitale Zwillinge gelten damit als einer Chirurginnen und Chirurgen angepasst ist.
landung war damit nicht mehr möglich. Statt- der Schlüssel für eine personalisierte Medizin. „Dieses Modell kann der Chirurg so filtern, dass
dessen lief eine dramatische Rettungsaktion an, Doch was in der Fertigungsindustrie seit er zum Beispiel nur die Gefäße sieht“, sagt PD
die es in die Annalen der Raumfahrt und auf die Jahrzehnten gang und gäbe ist, ist in der Medizin Dr. Christian Krautz. „Er kann es auch drehen
große Hollywood-Leinwand geschafft hat. Dass ungleich schwieriger. Für einen vollständigen oder in verschiedene Ebenen aufteilen – genau
die drei Astronauten lebend auf die Erde zurück- virtuellen Doppelgänger einer Patientin oder so, wie er es im Moment braucht.“ Eine Evalu-
kehrten, war Computersimulationen zu verdan- eines Patienten müssten riesige Datenmengen ierungsstudie hat gezeigt, dass die Chirurgin-
ken. Vor dem Start hatten die NASA-Ingenieure erhoben, fortlaufend aktualisiert und ausgewer- nen und Chirurgen mithilfe der kinematisch
damit verschiedene Szenarien der Mission tet werden. Hier kommt künstliche Intelligenz gerenderten CT-Bilder die Patientenanatomie
durchgespielt und in der kritischen Situation ins Spiel, denn ohne Methoden des maschinellen schneller und besser verstehen als mit her-
konnten sie damit Problemlösungen testen. Lernens ist das nicht mehr möglich. Neben Di- kömmlichen CT-Bildern. Allerdings ist das
Diesem weltweit ersten „digitalen Zwil- agnosen, Laborergebnissen, medizinischen Cinematic Rendering für die OP-Planung noch
lingssystem“ der NASA folgten viele weitere. Bildern und Arztberichten gehören dazu auch nicht zugelassen.
Eine einheitliche Definition für digitale Zwil- Daten zu Verhalten und Lebensstil, etwa zur
Besser als „Trial and Error“
linge gibt es nicht. Häufig handelt es sich um körperlichen Aktivität oder zu Ernährungsge-
Simulationsmodelle, die die Eigenschaften des wohnheiten, wie sie in Fitness-Trackern, Smart- Um maßgeschneiderte Therapien geht es
Originals wiedergeben. Werden sie mit realen watches oder Sensoren anfallen. Auch Daten zur Dr. Andreas Rowald vom Lehrstuhl für Digital
Daten gefüttert, verhält sich der digitale Zwil- Umwelt müssten in den digitalen Patienten Health an der Friedrich-Alexander- Universität
ling idealerweise genauso wie sein physisches einfließen, beispielsweise die Qualität der Luft Erlangen-Nürnberg (FAU). Er nutzt die Zwil-
Pendant. In der Industrie helfen solche virtu- oder der Lärmpegel, da diese die Gesundheit lingstechnologie in seiner Forschungsgruppe,
ellen Abbilder, reale Maschinen und Fertigungs- beeinflussen. Algorithmen können darin ver- um Elektrotherapien für Patientinnen und Pati-
straßen zu analysieren und zu steuern. Pro- borgene Muster und Verbindungen erkennen. enten mit chronischen Schmerzen oder neuro-
duktentwickler testen an digitalen Zwillingen, Der digitale Patient bleibt vorerst Zukunfts- logischen Erkrankungen wie Parkinson, Schä-
ob und wie ihre Entwürfe funktionieren. musik. Doch digitale Zwillinge einzelner Teil- den durch Schlaganfälle oder Wirbelsäulenver-
bereiche – also einzelner Organe, Organsyste- letzungen zu entwickeln. Sein Ziel: die Mecha-
Schlüssel zur personalisierten Medizin me oder Krankheitsmodelle – gibt es bereits. nismen der Elektrotherapie besser zu verstehen.
Nun wollen Forscherinnen und Forscher mit di- Auch in kleinerem Maßstab können Organmo- Die Tiefe Hirnstimulation sei schon sehr
gitalen Zwillingen die Medizin revolutionieren. delle hilfreich sein, etwa bei der Vorbereitung weit gediehen, sagt der Wissenschaftler, doch
Sie arbeiten an Computerprogrammen, die in von Operationen oder der Schulung von Medi- die Rückenmarkstimulation sei noch eine
Echtzeit möglichst viele krankheitsrelevante zinern. Das Medizintechnikunternehmen Blackbox. „Man weiß zwar, dass sie funktio-
und physiologische Daten von Patientinnen und Siemens Healthineers hat dafür das Cinematic niert: dass sie die Motor- oder die Blasenfunk- Abb.: Adobestockphoto.com © Pixel-Shot
Patienten zusammenführen und analysieren. Rendering entwickelt, ein Programm, das aus tion wiederherstellen, den Blutdruck manipu-
Hätte jeder Mensch einen digitalen Zwilling, lie- CT-Bildern ein dreidimensionales, farbiges, lieren und Schmerzen lindern kann. Man weiß
ße sich daran simulieren, wie sich sein Lebens- gestochen scharfes und individuell anpassba- aber nicht genau, wie. Das genügt mir nicht.“
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