Page 14 - xpress_Ausgabe 23.1
P. 14
Titelgeschichte
Danach, auch diese Phase des Strategiepro- kann man nicht oktroyieren, das hat schon die werden. Unabhängig davon spielen einige Kran-
zesses ist längst vorbei, gab es zu den Hand- letzten 20 Jahre nicht funktioniert.“ kenkassen mit dem Gedanken, den elektroni-
lungsfeldern insgesamt acht Workshops. Die Eher gemischte Gefühle hat Andreas schen Personalausweis als eID zu nutzen. Bei der
waren wiederum nicht frei zugänglich, sondern Strausfeld. Der Vorsitzende der Geschäftsfüh- BKK pronova ist das gerade Realität geworden.
es wurden zu den jeweiligen Handlungsfeldern rung des IT-Dienstleisters BITMARCK, in Ko-
ePA: vom Opt-in zum Opt-out
ausgewählte Expertinnen und Experten sowie operation mit dem österreichischen Unterneh-
Repräsentantinnen und Repräsentanten rele- men RISE, ist ein wichtiger Akteur bei den Der Baustellen noch nicht genug, ist gleichzeitig
vanter Organisationen gezielt eingeladen. Mit elektronischen Patientenakten: „Wir erwarten, im Koalitionsvertrag ein Wechsel der ePA-Logik
anderen Worten: Frei partizipieren konnte Bür- dass es endlich mit Schwung vorwärtsgeht.“ vorgesehen: von einem System, bei dem nur die-
gerin und Bürger nur in einigen wenigen Wo- Der Strategieprozess könne dabei einerseits jenigen eine ePA erhalten, die sie aktiv anfordern
chen im September. Danach waren Verbands- helfen. Andererseits sieht Strausfeld die Gefahr, („Opt-in“), hin zu einem System, bei dem jede und
vertreter, Repräsentanten von Patientenorga- dass gerade bei der ePA im Dienst ferner Zu- jeder eine ePA erhält, die oder der nicht aktiv wi-
nisationen, Industrievertreter, Datenschützer, kunftsvisionen à la digitaler Zwilling zu viele derspricht („Opt-out“). Nur ein solches Opt-out-
Leistungserbringer, Techniker unter sich, die System macht es überhaupt denkbar, dass 80
sich überwiegend schon gekannt haben dürften. „Schweigen scheint Prozent der GKV-Versicherten bis 2025, dem Jahr
Klappt das? mir im Moment der der nächsten Bundestagswahl, eine ePA besitzen.
Und das wiederum ist ein Ziel, das die Ampelko-
bessere Weg.“
Ob der straffe und in der Gesamtschau zumin- alition als Ganzes – auf Wunsch des BMG – in ihre
dest nicht sehr stark partizipative Strategiepro- im Frühjahr vorgelegte, branchenübergreifende
zess am Ende zum gewünschten Erfolg führt, Dinge wieder aufgeschnürt werden, die in den Digitalstrategie aufgenommen hat.
werden die nächsten Wochen zeigen. „Was ich letzten Jahren mühsam abgestimmt wurden Soll das geschafft werden, dann darf die
mir wünschen würde, ist, dass wir ein gemein- – was am Ende nur zu weiteren Verzögerungen derzeit in Ärbeit befindliche Digitalstrategie
sames Bild davon entwickeln, wo wir eigentlich in einem Land führen würde, das im interna- für das Gesundheitswesen der TI oder der
hinwollen, und dass wir daraus dann ableiten tionalen Vergleich ohnehin schon spät dran ist. gematik jedenfalls nicht allzu viele Knüppel
können, welche Entscheidungen wir treffen und zwischen die Beine werfen. „Aus meiner Sicht
Handlungsbedarf an allen Ecken und Enden
wie wir die begrenzten Ressourcen priorisie- sollte die gematik so schnell wie möglich – früh
ren“, skizzierte Susanne Ozegowski ihre Erwar- Denn Strategie hin oder her, bei der Telematik- in 2023 – eine verbindliche Spezifikation für
tungen. Die Digitalisierungschefin des BMG infrastruktur und ihren Anwendungen gibt es die neue ePA vorlegen, damit bereits am
sieht das deutsche Gesundheitswesen in Sachen in den nächsten Monaten Handlungsbedarf an 1. Januar 2024 der Schalter auf Opt-out gelegt
Digitalisierung derzeit in einem Berliner-Flug- allen Ecken und Enden. Es steht letztlich ein werden kann – und nicht erst 2025“, sagt
hafen-Narrativ gefangen, aus dem nur schwer Systemwechsel an, und der muss irgendwie BITMARCK-Chef Andreas Strausfeld.
herauszukommen ist: „Dieses Narrativ müssen parallel zur Strategieentwicklung vonstatten-
Strategie? Oder wie?
wir durchbrechen. Die Chancen der Digitalisie- gehen. Betroffen sind davon in erster Linie die
rung liegen auf der Hand, wir müssen sie jetzt ePA und das Infrastrukturthema der digitalen Was bleibt, ist ein etwas zwiespältiges Gefühl im
nutzen.“ Identitäten. Letzteres wiederum betrifft dann Hinblick auf den Strategieprozess, der im deut-
Von Patientinnen und Patienten sowie Bür- praktisch alle anderen TI-Anwendungen. schen Gesundheitswesen läuft und der dem-
gerinnen und Bürgern kommen positive Rück- Bei der ePA hat die gematik im Sommer den nächst zumindest vorläufig zu Ende gehen wird.
meldungen, sofern sie von dem Strategieprozess Krankenkassen verboten, ihre Versicherten per Enden wird er, so viel steht fest, mit der Veröf-
wussten und daran partizipieren konnten – im- Video-Ident-Verfahren zu identifizieren. Seither fentlichung eines oder mehrerer Dokumente und
mer aber auch der Hinweis, dass das alles nur ist die vorher schon nicht beeindruckende Dyna- – wahrscheinlich – eines Maßnahmenkatalogs.
ein Anfang sein könne (siehe Interview). Indus- mik bei der Zahl der ePA-Nutzerinnen und -Nut- Dieser wird möglicherweise weniger IT-Themen
trieseitige Reaktionen sind eher durchwachsen, zer – derzeit rund eine halbe Million – komplett und technisch-architektonische Fragen in den
wobei natürlich nicht jedes Unternehmen oder erlahmt. Im Herbst legten dann die Datenschüt- Mittelpunkt stellen, könnte dafür aber umso
jeder Verband an jedem Workshop beteiligt war. zer noch einen drauf: Die sogenannte alternative mehr mit Kommunikation, Akzeptanzbildung
„Schweigen scheint mir im Moment der bessere Versichertenidentität (al.vi), die es den Versicher- und Nutzereinbindung zu tun haben.
Weg“, sagt ein nicht ganz unprominenter Bran- ten bisher erlaubt, sich ohne eGK bei ihrem Viele Konjunktive an dieser Stelle, und eine
chenvertreter, der nicht namentlich genannt ePÄ-System anzumelden, läuft Ende 2022 mit ganze Menge Rahmenbedingungen, die die
werden will. Melanie Wendling, neue Geschäfts- einer Übergangsfrist zum ersten Quartal 2023 Formulierung einer Strategie in einem parti-
führerin des Gesundheits-IT-Branchenverbands aus, was die Nutzerfreundlichkeit der ePA deut- zipativen Prozess nicht unbedingt einfacher
bvitg, betont die positive kommunikative Di- lich verschlechtern wird. Mittlerweile gibt es von machen. Aber Strateginnen und Strategen ge-
mension des Prozesses: „Ich habe den Eindruck, der Betreiberorganisation der TI, der zu 51 Pro- hen auch nicht deswegen in die Geschichtsbü-
dass es einen breiten Veränderungswillen gibt, zent bundeseigenen gematik, ein Konzept für eine cher ein, weil sie es sich einfach machen, son-
und der erhält durch den Strategieprozess etwas kartenlose digitale ID (eID) im Gesundheitswe- dern weil sie – wie Themistokles vor Salamis
Momentum. Das Wichtigste ist, dass wir an ei- sen. Das muss aber zunächst einmal mit den Da- – in komplexen, um nicht zu sagen aussichts-
nen Punkt kommen, an dem sich alle einig sind, tenschützern und dem Bundesamt für Sicherheit losen Situationen geniale und oft unerwartete
dass sie Digitalisierung wollen. Digitalisierung in der Informationstechnik (BSI) abgestimmt Entscheidungen treffen.< $ PHILIPP GRÄTZEL
14 x.press 23.1