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Titelgeschichte
INTERVIEW DIE BEVÖLKERUNG MUSS SICH EINGEBUNDEN FÜHLEN
Marcel Weigand, Leiter Kooperationen und digitale Transformation bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland
und freier Berater, fordert, dass der Nutzen der digitalen Anwendungen stärker erkennbar sein muss.
Î Wie bewerten Sie als Bürger, als Versicherter, den laufenden deten Urbanen. Ich bin gespannt, ob die Digitalstra-
Strategieprozess? tegie uns in diesem Punkt weiterbringt. Ich hoffe es MARCEL WEIGAND
Unabhängige Patienten-
Ich halte es für sehr positiv, dass versucht wird, eine breitere Anbindung zu sehr. Anwendungen sollten aber auch vom ersten beratung Deutschland
erzeugen und vielfältige Stimmen und Institutionen einzubinden. Wie gut Schritt an nutzerzentriert entwickelt werden. Auch
das am Ende gelingt, müssen wir sehen. Aufseiten der Selbstverwaltung ist das könnte ein Ziel der Strategie sein. An den aktuellen TI-Anwendungen Abb.: Unabhängige Patientenberatung Deutschland
es ja eher nicht so, dass in den letzten 20 Jahren zu wenig Einflussnahme scheitern selbst digital affine Menschen.
existierte. Insofern ist die Bewertung zweischneidig: Vielfalt ist wichtig für
die Akzeptanz von E-Health-Anwendungen, aber die Digitalisierung erfor- Î Ein Punkt, der als Komponente der Digitalstrategie politisch gesetzt
dert in einigen Fällen auch mutige Entscheidungen, bei denen vielleicht zu sein scheint, ist der Wechsel der ePA vom derzeitigen Opt-in- auf ein
nicht alle mitgehen können oder wollen. Opt-out-Modell. Richtig so?
Ich halte das für richtig, aber klar ist auch, dass die ePA dazu deutlich aus-
Î Was ist aus Ihrer Sicht das Ziel dieses Strategieprozesses? und umgebaut werden muss. Zum einen braucht es eine Verpflichtung für
Neben den im Gesundheitswesen Tätigen muss sich auch die Bevölkerung medizinische Einrichtungen, bestimmte Daten dann auch einzustellen.
am Ende mitgenommen und eingebunden fühlen. Und es muss in der Brei- Zum anderen sollten wir, glaube ich, endlich stärker den Plattformgedan-
te klar sein, worin der Nutzen eines digitalen Gesundheitswesens besteht. ken verankern. Es fehlt der ePA im Moment an alltagsrelevanten, nützli-
Ich bin mir fast sicher, wenn wir heute fragen, warum wir eigentlich ein di- chen Funktionen. Dokumente ablegen ist schön und gut, aber solange es
gitales Gesundheitswesen brauchen, dann täten sich viele schwer mit der nicht Funktionen wie Arzt- und Kliniksuchen, Online-Terminbuchung oder
Antwort. Das muss sich ändern, wenn wir vorankommen wollen. Die auch Videosprechstunden im ePA-Kontext gibt, bleibt die ePA ein wenig
E-Health-Strategie muss die Klammer für alle Maßnahmen und Anwendun- inspirierendes Ablagefach. Das viel zitierte „die richtige Information zur
gen bilden. richtigen Zeit am richtigen Ort“ ist als unmittelbarer Vorteil jedenfalls
noch nicht direkt erfahrbar, da die ePA nur von wenigen Praxen genutzt
Î Ein paar Workshops werden dazu aber nicht reichen. und befüllt wird.
Nein. Ich glaube, es braucht mehrere Dinge. Ein Vorschlag, den ich an meh-
reren Stellen eingebracht habe, ist eine Art One-Pager, der in einfacher Î Was würden Sie sich noch wünschen als unmittelbares Ergebnis des
Sprache und attraktiv aufgemacht zusammenfasst, worum es eigentlich Strategieprozesses?
geht. Das kann aber auch nur ein erster Schritt sein. Letztlich muss es darum Eine gute E-Health-Strategie sollte so etwas wie eine Schrittmacherfunktion
gehen, die digitale Gesundheitskompetenz auf breiter Front zu fördern. Das haben. Damit sie das leisten kann, sollte sie meines Erachtens mit konkreten
Patientendaten-Schutz-Gesetz von 2020 hat dafür im § 20k SGB V im Prinzip Versorgungszielen untermauert sein. Einige Länder machen das so. Solche
eine Grundlage geschaffen. Das, was da bisher passiert, reicht aber nicht, Ziele könnten zum Beispiel die Reduktion von medikationsfehlerbedingten
und es richtet sich vor allem an digital affine Menschen. Aktuelle Umfragen Klinikeinweisungen sein, um nur ein Beispiel zu nennen. Wenn wir das hät-
zeigen, dass der „Digital Health Gap“ zuletzt eher größer geworden ist, sie- ten, dann wäre die Strategie nicht nur eine schöne Vision, sondern länger-
he Nutzung von Videosprechstunden. Digitale Kompetenz muss da aufge- fristig immer auch eine Erfolgskontrolle, die anzeigt, was funktioniert und
baut werden, wo der größte Bedarf ist. Das sind nicht die jungen, gut gebil- wo mit konkreten Schritten nachgebessert werden muss.<
solle das deutsche Gesundheitswesen künftig allzu tief in die Abgründe des deutschen Ge- beziehen. Sundhed verzeichnet aktuell rund
klinische Studien mit virtuellen Kontrollgrup- sundheitswesens hinunterzubewegen. Eines 9 Millionen Zugriffe pro Monat bei 5,8 Millio-
pen durchführen können, um die Forschung seiner Lieblingsländer ist Dänemark. Von dort nen Einwohnern.
– in dem Fall zur Impfstoffentwicklung – zu hatte sich das Ministerium Morten Pedersen Pedersen gab sich klar als Strategiefan zu
beschleunigen und nicht für jede Fragestellung nach Berlin geholt, seit Jahren einer der pro- erkennen, was der deutschen Politik natürlich
eine zeitraubende, randomisierte Studie zu fundesten Kenner des digitalen dänischen in die Karten spielte, und so war es auch ge-
benötigen. Man spürte in Berlin förmlich, wie Gesundheitswesens. Es besteht aus einer in dacht: „Unsere E-Health-Strategie war der
die Strategiearchitektinnen und -architekten weiten Teilen dezentralen, für alle Berechtig- wichtigste Treiber für die Digitalisierung und
anfingen, zu schwitzen. ten zugänglichen elektronischen Akte und wird das auch in Zukunft sein.“ Zu den Erfolgs-
dem nationalen Gesundheitsportal Sundhed rezepten der dänischen Digitalisierung zähle,
Inspiration aus Dänemark … („Gesundheit“), kürzlich ergänzt um die mo- so Pedersen, eine einheitliche Bürger-ID, die
Ü� berhaupt, das Äusland: Wenn Lauterbach bile App MyHealth, die es den Bürgerinnen nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch
über Strategien spricht, dann lässt er gern an- und Bürgern Dänemarks erlaubt, viele ge- in anderen Bereichen genutzt werde, außerdem
dere Länder sprechen und vermeidet es, sich sundheitsbezogene Dienstleistungen mobil zu eine Kultur des Vertrauens, die es möglich
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