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Abb.: © Landesärztekammer Baden-WürttembergKompakt Epilepsie-Alarm
Abb.: iStockphoto.com © wildpixel
Interview Fernbehandlung Im Projekt EPItect entsteht ein elektronisches
Frühwarnsystem für Epileptiker.
Dr. Ulrich Clever
Epilepsie gilt als eine der häufigsten neu-
Dr. Ulrich Clever ist Präsident der Landes- rologischen Erkrankungen weltweit. Die
ärztekammer Baden-Württemberg. Anfälle sind unvorhersehbar, weshalb sie
sowohl für die Patienten als auch für Pfle-
Bislang war Ärzten die ausschließliche Fernbehandlung berufsrechtlich unter- gende eine große Belastung darstellen. Epi-
sagt. Was hat die Landesärztekammer Baden-Württemberg dazu veranlasst, leptische Anfälle können zu schwerwiegen-
diese Einschränkung jetzt zu lockern? den Verletzungen führen, die eine Pflege
Wir haben die Berufsordnung geändert, weil wir finden, dass die Telemedizin in ärztlicher verkomplizieren. Im Projekt EPItect entwi-
Hand bleiben muss und wir die Rahmenbedingungen bestimmen wollen. Außerdem ha- ckeln Forscher in den nächsten drei Jahren
ben wir eine gemeinsame Grenze mit der Schweiz; dort ist diese Form der ärztlichen Be- eine alltagstaugliche Methode zur Früh
treuung bereits möglich. Es gibt Ärzte aus unserem Kammerbereich, die dort arbeiten. So- erkennung epileptischer Anfälle. Diese soll
lange sie das auf Schweizer Boden tun, ist das kein Problem. Fände das aber etwa vom Home- dabei helfen, rechtzeitige Sicherheitsmaß-
office von deutschem Territorium aus statt, würde es berufsrechtlich schon schwieriger. nahmen zu ergreifen und dadurch eine
Steigerung der Lebensqualität bei Betroffe-
Unter welchen Bedingungen darf ein Arzt in Zukunft Patienten telemedizi- nen und Pflegenden zu erzielen. Im Zent-
nisch behandeln, ohne diese jemals persönlich gesehen zu haben? rum des Projekts steht die Entwicklung
Die ausschließlich telemedizinische Betreuung war bislang aus guten Gründen nicht ge-
stattet, vor allem um Patienten und Ärzte zu schützen. Mit unserer zarten Aufweichung Alarmsystem: Hilfe zur richtigen Zeit
dieser Regelung wollen wir die fraglichen Bedingungen praxisnah ermitteln.
einer sogenannten IN-Ohr-Sensorik und
Was spricht dagegen, die Erlaubnis zur ausschließlichen Fernbehandlung auch einer Vernetzungsinfrastruktur. Der Sen-
nach dem erfolgreichen Abschluss eines Telemedizinprojekts und der Überfüh- sor wird in den Gehörgang eingesetzt und
rung in den Regelbetrieb aufrechtzuerhalten? misst medizinische Werte, die bei einem
Mit unserem Vorstoß haben wir sehr bewusst den ersten Aufschlag gemacht. Wir woll- epileptischen Anfall relevant sind. Das
ten aber vermeiden, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun. Daher die Erprobung in Fraunhofer-Institut für Software- und
Modellprojekten, die von der Zustimmung des Vorstandes der Landesärztekammer ab- Systemtechnik ISST entwickelt hierzu eine
hängig sind und zudem engmaschig evaluiert werden sollen. Smartphone-App, die diese Sensorwerte
kontinuierlich mittels Bluetooth-Funktech-
Bedeutet die neue Regelung den Einstieg in den Ausstieg vom generellen nik empfangen und auf das Vorliegen eines
„Fernbehandlungsverbot“? epileptischen Anfalls hin analysieren soll.
Es gibt kein generelles „Fernbehandlungsverbot“. In Empfehlungen der Bundesärzte- In diesem Fall informiert das Alarmmodul
kammer werden beispielsweise sieben Fallkonstruktionen von Fernbehandlung darge- der App den Patienten und die Pflegenden,
stellt, die heute schon mit der geltenden Berufsordnung möglich sind. Es geht auch sodass diese frühzeitig geeignete Maßnah-
nicht um einen „Dammbruch“ oder ähnliches, sondern schlicht darum, dass wir uns men einleiten können. Die Biosignalmuster,
Telemedizin ohne Ärzte nicht vorstellen können. Deshalb haben wir uns an die Spitze die auf einen epileptischen Anfall hindeu-
der Bewegung gesetzt. ten, müssen zuvor im Projekt validiert wer-
den. Hierzu wollen die Forscher Daten von
Hat die Entscheidung der Landesärztekammer Baden-Württemberg Vorbild stationären Patienten erheben.
charakter für eine bundesweit einheitliche Regelung?
Wir beobachten, dass sich telemedizinische Versorgungsangebote mit hoher Dynamik www.epitect.de
entwickeln. Dabei herrscht oft Unsicherheit, ob diese neuen Methoden mit der Berufs-
ordnung für Ärztinnen und Ärzte vereinbar sind. Ich könnte mir vorstellen, dass unsere
jetzt beschlossene Regelung früher oder später auch Eingang in die Muster-Berufsord-
nung findet.
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