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Thema












        FORSCHUNG IN DER ALLGEMEINMEDIZIN
       Runter vom Elfenbeinturm!







        Die EU-Kommission will einen europäischen Raum für Gesundheitsdaten schaffen. Es wäre schade,
        wenn Versorgungsdaten aus dem niedergelassenen Bereich dort nicht ankommen würden.





            m 20. Mai 1747 kam der schottische  und Hausärzte meist die erste Anlaufstelle für  ministerium (BMBF) fördert deshalb den Auf-
            Schiffarzt James Lind auf der Suche nach  Patientinnen und Patienten – und das nicht nur,  bau eines Netzwerks von Forschungspraxen.
        Aeiner Therapie gegen Skorbut auf eine  wenn sie krank sind, sondern auch präventiv,  In der Initiative DESAM ForNet arbeiten in
        bis dato außergewöhnliche Idee: Er teilte zwölf  wenn sie Vorsorgeuntersuchungen in An-  sechs Forschungspraxennetzen 23 universitä-
        erkrankte Matrosen in sechs Vergleichsgrup-  spruch nehmen oder sich impfen lassen. Dar-  re Institute für Allgemeinmedizin eng mit
        pen ein. Jede Gruppe behandelte er anders, um  über hinaus laufen in den Hausarztpraxen auch  Hausarztpraxen zusammen. Gemeinsam mit
        zu beobachten, wie sich ihr Gesundheitszu-  die Daten aus der stationären Versorgung oder  der Koordinierungsstelle, die Leonor Heinz
        stand entwickeln würde. Am Ende waren die  aus Pflegeeinrichtungen zusammen.   leitet, wollen sie eine deutschlandweite For-
        Seeleute, die vermehrt Orangen und Zitronen                            schungsinfrastruktur für Forschungsprojekte
        aßen, vollständig geheilt.                                             aufbauen (siehe x.press 23.3, Seite 18).
                                                 Leider fehlt es noch
          Linds Experiment zeigt, dass Fortschritte in                           Entscheidend dabei ist: Die Forschung muss
        der Medizin zu einem großen Teil auf der Nut-  immer an einer Standar-  mit dem Versorgungsalltag der Praxen verein-
        zung und Interpretation von Daten beruhen.                             bar  sein.  Das  Spektrum  der  DESAM-For-
        Der Arzt legte damit den Grundstein für die   disierung der Daten.     Net-Projekte reicht von unkomplizierten Be-
        moderne klinische Forschung. Damals wie heu-                           fragungen bis hin zu randomisierten kontrol-
        te werden Daten benötigt, um neue Diagnostik-                          lierten Studien. Als Hilfestellung bietet die
        und Behandlungsmethoden zu entwickeln, die   In der Praxissoftware stecken also jede Men-  Initiative Schulungen für teilnehmende Ärz-
        Wirksamkeit von Arzneimitteln zu überprüfen  ge Informationen, die für die Forschung von  tinnen und Ärzte und medizinische Fachange-
        und bestehende Therapien immer wieder auf  Interesse wären. Etwa für Phase-IV-Studien, in  stellte (MFA) an. Daneben setzt sie sich für eine
        den Prüfstand zu stellen. Je mehr Daten dafür  denen neue Arzneimittel nach der Marktzulas-  dauerhafte öffentliche Förderung ein. „Wenn
        zur Verfügung stehen – umso besser.  sung unter Alltagsbedingungen überwacht  ich meine MFA zur Study Nurse qualifiziere,
          Leichter gesagt als getan. Nicht zuletzt die  werden, um unerwünschte Ereignisse und  muss ich mich darauf verlassen können, dass
        Coronapandemie hat Deutschlands Defizite bei  Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten  es sich durchgehend lohnt – sowohl inhaltlich
        den gesundheitsbezogenen Daten offengelegt.  aufzuspüren. Zudem behandeln Hausärztinnen  als auch finanziell“, sagt Leonor Heinz.
        Während in anderen europäischen Ländern die  und Hausärzte viele Erkrankungen, für die es
                                                                               Interoperabilität und Standardisierung
        Übertragungswege des Virus oder Impfreakti-  an Evidenz mangelt, etwa unkomplizierte Harn-
        onen zügig untersucht werden konnten, gelang  wegsinfekte oder akute Gichtanfälle.  Ein weiterer Knackpunkt ist die Praxissoft-
        dies in Deutschland nur verzögert oder mit   „Universitätskliniken halten das Patienten-  ware. „Leider fehlt es noch immer an einer Stan-
        großem Aufwand. Und das nicht, weil es an Da-  spektrum, das zur Generierung dieser leitlini-  dardisierung der Daten, und auch von einer
        ten mangeln würde, sondern weil sie in unter-  enrelevanten Evidenz benötigt wird, nicht vor  Interoperabilität der Systeme verschiedener
        schiedlichen Daten-Silos lagern. Unberührt – da  und können diese Forschung nicht umsetzen“,  Hersteller sind wir – mit wenigen Ausnahmen
        sie aufgrund organisatorischer und rechtlicher  sagt Allgemeinmedizinerin Dr. Leonor Heinz.  – noch weit entfernt“, sagt Dr. Anna Niemeyer,
        Hürden nicht genutzt werden dürfen.   „Klinische Studien, die verschiedene Thera-  die für die Technologie- und Methodenplatt-
                                           pieoptionen für typische Beratungsanlässe im  form für die vernetzte medizinische Forschung
        Forschende Hausärzte dringend gesucht  hausärztlichen Setting vergleichen, sind für  (TMF) in der Koordinierungsstelle tätig ist.
        Was für Daten aus der Universitätsmedizin  eine gute Entscheidungsgrundlage im Versor-  Gleichwohl sind in den vergangenen Jahren    Abb.: istockphoto / Montage
        gilt, gilt umso mehr für Daten aus der ambu-  gungsalltag notwendig – dafür braucht es haus-  Fortschritte für Deutschland zu verzeichnen:
        lanten Versorgung. Dabei sind Hausärztinnen  ärztliche Forschung.“ Das Bundesforschungs-  Das Bundesinstitut für Arzneimittel und

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