Page 22 - xpress_Ausgabe 19.4
P. 22

Thema




        INTERVIEW        „IN DER FREIEN WIRTSCHAFT MUSS EIN ARZT KOMPLETT UMDENKEN“

          Der Arzt Dr. Sven Jungmann ist Unternehmer geworden. Er ist im medizinischen Beirat von Spring aktiv und
          berät Unternehmen der Gesundheitsbranche bei Digitalisierungsprojekten. Ein Gespräch über seine neue
          Tätigkeit und die Mitarbeit an einem Symptomchecker.

                                                                                               DR. SVEN JUNGMANN
          Î ÎWarum wechselt ein Arzt in die IT-Branche?      Î ÎWas sagen Sie Ihren Kollegen, die    Der Arzt und Unternehmer   Abb.: Alexander Kleber
          Ich habe in Berlin in der Notaufnahme gearbeitet und war sehr frustriert.   Online-Fragebögen generell kritisch sehen?  ist Mitglied im medizi-
                                                                                               nischen Beirat von Spring.
          Das Wartezimmer war voller Menschen, die dringende Probleme hatten,   In Diskussionen über Diagnosetools wird oft das
          und ich verbrachte täglich zwei Stunden am Telefon, um von den vorbehan-  viel wichtigere Thema übersehen: die Katamnese
          delnden Ärzten Informationen über Vorbehandlungen und Diagnosen, aber   – alles, was nach der Therapie passiert. Wir müssen wegkommen von einer
          auch über Allergien und eingenommene Medikamente zu erfahren. Neben   Therapiekultur, bei der es nur auf den Output ankommt, und uns fragen,
          meiner Arbeit musste ich die Arztbriefe abtippen, die per Fax eintrafen. Ich   welche Therapie bringt dem Patienten tatsächlich einen Mehrwert? Muss
          glaube, dass wir mithilfe von Technologie diese lästigen Arbeiten, für die   er wirklich operiert werden, um wieder im Garten arbeiten zu können,
          niemand Medizin studiert hat, von den Ärzten fernhalten sollten.  oder ist vielleicht eine Physiotherapie in Verbindung mit Medikamenten
                                                             für ihn der bessere Weg? Den Mehrwert für die Patienten könnten wir mit
          Î ÎWas ist Ihre Aufgabe im medizinischen Beirat von Spring?  den standardisierten Online-Fragebögen wie beispielsweise von ICHOM
          Ich berate das Unternehmen in allen Fragen rund um Digital Health. Nächste   (International Consortium for Healthcare Output Measurement) erfassen
          Woche zum Beispiel setzen wir uns zusammen und besprechen, ob die Fra-  und den Ärzten zurückspielen, damit diese erfahren, wie gut sie das Leben
          gebögen formell richtig gestaltet sind oder ob wir die digitalen Technologi-  ihrer Patienten verändert haben. Das sind alles Dinge, die leider noch nicht
          en richtig nutzen. Für fachliche Fragen, beispielsweise die Inhalte der Frage-  stattfinden.
          bögen, sind meine Kollegen im Beirat – allesamt Urologen – zuständig.
                                                             Î ÎWelche Voraussetzungen sollte man als Mediziner mitbringen,
          Î ÎIn welche Richtung wird sich Spring weiterentwickeln,    um in der Wirtschaft zu arbeiten?
          werden Sie auch im Bereich der künstlichen Intelligenz aktiv?  Es kommt nicht so sehr auf das Fachwissen an. Wenn ein junges Unterneh-
          Aktuell ist das noch nicht notwendig. Grundsätzlich ist alles offen. Ich könn-  men medizinisches Know-how benötigt, kann es sich zeitlich befristet einen
          te mir vorstellen, dass wir künstliche Intelligenz in das System reinbringen,   medizinischen Experten buchen. Wichtig ist vor allem, Dinge zu verlernen.
          wenn wir einmal eine große Datengrundlage haben. Dadurch könnten wir   Ärzte priorisieren zum Beispiel entweder nach Reihenfolge der Anmeldung
          besser verstehen, welche Patienten welche Bedürfnisse haben. Wichtig sind   oder nutzen Algorithmen, die aus wenigen Parametern bestehen, um nach
          aber nicht nur digitale Lösungen. Wir überlegen zurzeit, ob wir auch Grup-  Dringlichkeit zu triagieren. Bei Innovationsthemen muss der Arzt komplett
          pentherapien anbieten, die wir mit Fachkräften vor Ort machen. Die Patien-  umdenken. Es gibt zunächst weder Patienten, die von selbst zu ihm kom-
          ten könnten diese Termine dann digital buchen.     men, noch standardisierte Priorisierungsverfahren. Man muss selbst entde-
                                                             cken, wo etwas erschaffen werden muss, das zuvor nicht da war, und her-
          Î ÎMachen Sie mit Spring den niedergelassenen Urologen Konkurrenz?  ausfinden, welche der vielen Ideen die Dringlichste ist. Während ein Arzt
          Diesen Vorwurf bekomme ich oft von Kollegen zu hören. Es gibt nicht viele   versucht, stets das Bestmögliche für seine Patienten herauszuholen, muss
          Menschen, die gerne zum Arzt gehen. Vor allem, wenn es um schamhafte   sich der Mediziner bei Innovationsthemen damit begnügen, seinen Fokus
          Themen wie Männergesundheit geht, ist die Hemmschwelle hoch. Der hohe   darauf zu setzen, möglichst über viele kleine Experimente zu validieren,
          Frauenanteil in Arztpraxen und Apotheken hält viele Männer ab, vor allem   dass er dem Kunden das liefert, was dieser auch braucht. Das bedeutet, dass
          in kleineren Orten, wo jeder jeden kennt. Wir helfen denjenigen, die keine   man zu Beginn Produkte anbietet, die noch weit von der großen Endvision
          Praxis aufsuchen würden. Und falls es mit dem Ausstellen eines Rezepts   entfernt sind. Dann kann er schrittweise weiterentwickeln. Es ist ein völlig
          nicht getan ist, vermitteln wir die Patienten an einen Arzt.   anderes Risikomanagement.<




          1. Cluster-Kopfschmerz. Ärztlichen Rat ein-  kann aber dazu beitragen, unnötige Arztbesu-  ve wären Symptomchecker. Das Marktfor-
        holen. 6 von 10 Personen mit den gleichen  che zu vermeiden. Ganz im Sinne von Dr. Klaus  schungsunternehmen research2guidance will
        Symptomen haben diese Erkrankung.    Reinhardt, dem Präsidenten der Bundesärzte-  berechnet haben, dass sich in Deutschland
          2. Glaukomanfall beim Engwinkelglaukom.  kammer, der sich gegenüber Medienvertretern  durch den Einsatz von Symptomcheckern rund
        Notaufnahme aufsuchen. Weniger als eine von  so äußerte: „Nicht jeder Besuch beim Arzt ist  1 Milliarde Euro einsparen ließen.
        10 Personen mit den gleichen Symptomen ha-  notwendig und sinnvoll. (...) Die Patienten müs-  Das chronisch unterfinanzierte und unter
        ben diese Erkrankung.              sen lernen, verantwortungsvoll mit der Res-  Ärztemangel leidende staatliche britische Ge-
                                           source Arzt umzugehen.“ Der Ärztevertreter  sundheitswesen (NHS) setzt bereits auf Symp-
        Beraten und sparen                 denkt an eine finanzielle Selbstbeteiligung der  tomchecker als Triage-System. Es hat die Soft-

        Aus diesen Antworten wird ersichtlich, dass  Patienten, um die Zahl der unnötigen Arztbe-  ware Babylon Health mit einem Millionenbe-
        Ada nicht vorhat, den Arzt zu ersetzen. Die App   suche einzudämmen. Eine mögliche Alternati-  trag gefördert. Erklärtes Ziel: Nur noch die

    2 22   x.press 19.42   x.press 19.
   17   18   19   20   21   22   23   24   25   26   27