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Titelgeschichte




        INTERVIEW         „FESTLEGEN, WER FÜR DAS PATCHEN VERANTWORTLICH IST.“

          Prof. Dr. Christian Johner berät Unternehmen bei der Entwicklung und Zulassung von Medizinprodukten.
          In seinem Blog äußert er sich ausführlich zum Thema „Software als Medizinprodukt“.



          Î ÎWenn ein Arzt in seiner Praxis ein medizinisches Gerät einsetzt, haftet   das Medizingerät zusammen mit einem   PROF. DR. CHRISTIAN JOHNER
          nach der Medizinprodukte-Verordnung der Hersteller. Wie verhält es sich   Windows-PC, wird das gesamte System zu ei-  Leiter des Johner Instituts für IT
          bei Software?                                      nem Medizinprodukt, obwohl sowohl der PC   im Gesundheitswesen  Abb.: Prof. Dr. Christian Johner
          Verwendet der Arzt eine Software, die sich sehr stark konfigurieren lässt,   als auch das Betriebssystem nicht für diagnos-
          beispielsweise durch den Einsatz von Makros, fällt sie gegebenenfalls nicht   tische oder therapeutische Zwecke entwickelt wurden. Vertreibt der Herstel-
          mehr unter die Zweckbestimmung des Herstellers. Dann wird aus einer Soft-  ler dagegen Medizingerät und PC unabhängig voneinander, liegen zwei Ver-
          ware ein „Medizinprodukt aus Eigenherstellung“, und der Arzt hat einen ge-  kaufsvorgänge vor. Der Arzt erwirbt dann separat einen PC mit Betriebssys-
          waltigen Anforderungskatalog zu erfüllen. Das kann er in der Regel nicht al-  tem, der „zufälligerweise“ die Anforderungen des Medizinprodukts erfüllt.
          lein leisten.
                                                             Î ÎHandelt es sich bei dieser Unterscheidung nur um eine juristische
          Î ÎAngenommen, ein Patient hält während einer Videosprechstunde eine   Spitzfindigkeit?
          Wunde in die Kamera und der Arzt nutzt das Bild zur Befundung: Wird der   Keineswegs. Das Betriebssystem muss fortlaufend aktualisiert werden,
          Praxis-PC zum Medizinprodukt?                      damit Malware nicht das System und damit auch das Medizingerät lahm-
          Nein. Der Hersteller hat den PC nicht zu diagnostischen Zwecken in den   legen kann. Bei einem separat erworbenen PC liegt dies allein in der Ver-
          Verkehr gebracht. Der Arzt nutzt in diesem Fall ein Nicht-Medizinpro-  antwortung des Betreibers. Bei einem Komplettsystem sollte hingegen
          dukt, um eine Diagnose zu erstellen. Eigentlich darf er das nicht. In die-  bereits im Kaufvertrag festgelegt werden, wer für das Patchen verant-
          sem Fall gelten nationale Regelungen wie die Röntgenverordnung.   wortlich ist. Geschieht dies nicht, befindet sich der Arzt in einer lose-
                                                             lose-Situation. Spielt er das Update auf, verändert er ein bestehendes
          Î ÎMedizingeräte werden zunehmend über Standard-PCs gesteuert. Wann   Medizinprodukt und wird damit zum Hersteller mit allen Konsequenzen.
          fallen PC und Betriebssystem unter die Medizinprodukte-Verordnung?   Unterlässt er es, handelt er sich womöglich einen Computerschädling ein
          Grundsätzlich unterscheiden wir zwei Möglichkeiten. Vertreibt der Hersteller   und gefährdet den Patienten.<





        Normen für Kunststoffe und eine spezielle für  Studien von Arzneimitteln und ein Qualitäts-  Jahren eingeräumt hat. Am 26. Mai 2020 endet
        Keramik.                           management für die Produktion. Bei einem  diese Frist. Abhängig von der Gültigkeit des
          Auch die Prüfnormen sind festgelegt. Die  aktiven Implantat zum Beispiel werden über  CE-Zertifikats oder der Einteilung in eine Ri-
        Hersteller von Schrittmachern und Defibrilla-  1 000 mechanische Merkmale überprüft.   sikoklasse müssen etliche bereits am Markt
        toren mussten bereits nach der alten Regelung   Der EU-Abgeordnete Peter Liese schreibt  vorhandene Medizinprodukte bis zu diesem
        in Tests über 100 Normen erfüllen. Der inter-  auf seiner Homepage: „Das Problem beim  Zeitpunkt neu zertifiziert werden. Andernfalls
        ne Testaufwand für einen Herzschrittmacher  PIP-Skandal bestand darin, dass das Produkt  verlieren sie ihre CE-Zulassung. „Eine Konso-
        lag damals laut BVMed bei rund 40 000 Stun-  zwar am Anfang den Regeln entsprach, der  lidierung des Marktes ist durchaus erwünscht,
        den, und die technische Dokumentation füllte  Hersteller die Produktion später aber von  um alte Schrottprodukte loszuwerden“, sagt
        rund sieben Aktenordner. Inzwischen hat sich  hochwertigem medizinischem Silikon auf bil-  Prof. Dr. Christian Johner, der mit seinem
        der Aufwand zum Teil drastisch erhöht. „Für  liges Industriesilikon umgestellt hat. Das soll   Johner Institut Unternehmen bei der Entwick-
        Klasse-III-Produkte sind die Files von 500 auf  zukünftig durch verpflichtende Kontrollen  lung und Zertifizierung von Medizinprodukten
        6 000 Seiten angewachsen. Unsere Ingenieure  beim Hersteller unterbunden werden.“ Vertre-  berät. Ein großes Problem dieser Neuzertifi-
        arbeiten mehr an regulatorischen Anforde-  ter der Industrie bezweifeln jedoch, ob unan-  zierung ist die fehlende „Großvater-Regelung“:
        rungen als an der Produktentwicklung. So  gemeldete Kontrollen gegen derart kriminelle  Sogar die Zertifizierung einer Hüftprothese,
        kann Wirtschaft und so können Innovationen  Energie viel ausrichten können. Sie verweisen  die seit 20 Jahren erfolgreich am Markt ist,
        nicht funktionieren“, kritisierte Dr. Meinrad  darauf, dass beim PIP-Skandal die staatliche  genießt keinen Bestandsschutz. Die MDR ver-
        Lugan, Vorstand von B. Braun Melsungen und  Aufsicht in Frankreich versagt habe.   langt vom Hersteller, dass er klinische Daten
        Vorstandsvorsitzender des BVMed, am 10.   Für Liese bedeutet die Medizinproduk-  vorlegt, die er vor 20 Jahren noch nicht benö-
        Oktober 2018 auf einer BVMed-Veranstaltung.  te-Verordnung aber einen großen Schritt für  tigt hat. „Hier muss es pragmatische Lösungen
          Die Ergebnisse dieser Tests sind Teil der  mehr Patientensicherheit: „Die neue Verord-  geben“, fordert Manfred Beeres, der Presse-
        Dokumentation, die der Hersteller für die Kon-  nung ist gut für die Patienten und stärkt die  sprecher des BVMed.
        formitätsbewertung der Benannten Stelle  seriösen Hersteller.“ Tatsächlich hat es die    An der grundlegenden Definition eines
        vorlegen muss. Hinzu kommen bei sicherheits-  neue EU-Medizinprodukte-Verordnung in sich.  Medizinproduktes hat sich unter der MDR
        relevanten Produkten wie Schrittmachern  Das weiß auch die EU-Kommission, weshalb  nichts geändert. Allerdings fallen jetzt auch
        klinische Prüfungen analog den klinischen  sie den Herstellern die Übergangsfrist von drei  Produkte unter die MDR, die keine Medizin-

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