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Kompakt



        INTERVIEW         „WIR BENÖTIGEN KOMPLETT ANDERE FACHEXPERTISEN“

          Der Spitzenverband IT-Standards im Gesundheitswesen (SITiG) hat zusammen mit dem Digitalverband Bitkom
          vorgeschlagen, eine übergreifende Bundesagentur für Digitalisierte Medizin einzurichten.



          Î ÎLäuft Ihr Vorschlag zur Einrichtung einer Bundesagentur für    nen und mit HL7 und SNOMED CT standardisier-
          Digitalisierte Medizin auf die Abschaffung der gematik hinaus?  ten Daten wissenschaftliche Hochleistungen für   PROF. DR. MED. SYLVIA THUN   Abb.: Prof. Dr. Sylvia Thun
                                                                                             ist Vorsitzende des SITiG.
          Es geht nicht darum, die gematik abzuschaffen, sondern das Thema weiterzu-  die Patientenversorgung erzeugen.
          entwickeln in Richtung einer „Data-Driven Medicine“. Wir wollen den Ärzten
          die Daten zur Verfügung zu stellen, auf deren Basis sie eine Therapieentschei-  Î ÎVerlangsamt eine so große Gruppe mit unterschiedlichen Interessen
          dung treffen können. Dafür müssen auch die Rahmenbedingungen für elekt-  nicht den Entscheidungsprozess, den Sie mit Ihrem Vorschlag
          ronische Patientenakten und E-Health-Anwendungen geschaffen werden. Es   beschleunigen wollen?
          handelt sich um eine ressortübergreifende Aufgabe, an der viele Beteiligte,   Ich habe das epSOS-Projekt in Europa mitverantwortet, bei dem es um den
          vor allem aber auch Mediziner und Wissenschaftler, mitwirken müssen. Die   grenzüberschreitenden Austausch von personenbezogenen Gesundheitsda-
          gematik ist so konstruiert, dass sie sich um die Infrastruktur kümmert, und   ten ging. 1 500 Entscheider haben sich in acht Monaten auf die Spezifikation
          das soll sie auch weiterhin, wenn auch in abgespeckter Form. Für die Digitali-  für eine Patienten-Kurzakte geeinigt. Diese HL7-Akte „International Patient
          sierte Medizin benötigen wir komplett andere Fachexpertisen.   Summary“, die wir auch in Deutschland verwenden sollten, wurde gerade als
                                                             ISO-Standard spezifiziert und abgestimmt. Wir haben das hinbekommen,
          Î ÎSoll die Bundesagentur für Digitalisierte Medizin beim    weil in einer so großen Gruppe alle in eine Richtung denken. Einzelinteressen
          Bundesministerium für Gesundheit angesiedelt werden?  kommen so nicht zum Tragen, oder wenn, werden sie überstimmt.
          Dazu ist die Aufgabe, zum Beispiel die Erarbeitung der Rahmenbedingungen
          und medizinischen Inhalte für elektronische Patientenakten, viel zu komplex.  Î ÎWarum messen Sie den Rahmenbedingungen für die elektronische
          Die Bundesagentur für Digitalisierte Medizin sollte Vertreter der Selbstver-  Patientenakte eine so große Bedeutung bei?
          waltung, der medizinischen, pharmakologischen und pflegerischen Fachge-  Mit der Struktur der elektronischen Patientenakte legen wir fest, wie wir Ge-
          sellschaften und Berufsverbände, Forschungseinrichtungen, Experten für   sundheitsdaten in Zukunft austauschen. Wenn wir an dieser Stelle, bei den
          Standardisierungsfragen, die Industrie sowie Patientenorganisationen formal  Interoperabilitätsstandards, die Weichen falsch stellen und nicht die europäi-
          einbinden. Auch sollten Vertreter der Bundesländer sowie Mitglieder der be-  schen und internationalen Standards verwenden, die es ja bereits gibt, hat
          troffenen Bundestagsausschüsse an der Diskussion beteiligt werden. Ich plä-  das gravierende Konsequenzen für den Standort Deutschland: Wissenschaft-
          diere deshalb dafür, die Bundesagentur für Digitalisierte Medizin im Bundes-  ler können nicht mit medizinischen Daten forschen und verlassen dann das
          kanzleramt anzusiedeln – zumindest so lange, bis sie richtig läuft. Als Vorbild  Land. Die Mediziner wiederum sind für qualitativ hochwertige Therapieent-
          sehe ich die USA. Präsident Obama hat damals die Einführung der Präzisions-  scheidungen und Therapien auf die Daten der Wissenschaftler angewiesen.
          medizin (THE PRECISION MEDICINE INITIATIVE, Argonaut Project, sync4Genes  So verliert nicht nur die Medizin an Wissen, Ärzte wandern ab und Patienten
          – All of Us Research Program) zur Chefsache erklärt und diese sowohl poli-  werden schlechter versorgt. Es ist auch der Wirtschaftsstandort Deutschland
          tisch als auch finanziell unterstützt. Heute kann die USA auf Basis der erhobe-  gefährdet.<




        ANGEBORENE HERZFEHLER
        Big-Data-Analyse


        Rund 500 000 Kinder, Jugendliche und Erwach-                                  schern die Daten von 50 000 im Nati-
        sene in Deutschland leben mit angeborenen                                     onalen Register für angeborene
        Herzfehlern. Um die Betreuung dieser wach-                                    Herzfehler registrierten Patienten
        senden Patientengruppe zu verbessern, unter-                                  zur Verfügung. Die Studie ist auf drei
        suchen Forscher des Kompetenznetzes Ange-                                     Jahre angelegt. „Analysen aus Kanada
        borene Herzfehler in einer der bislang umfas-                                 und den USA haben gezeigt, dass Pa-
        sendsten Studien auf diesem Gebiet die                                        tienten mit angeborenen Herzfehlern,
        medizinische Versorgung von Patienten mit                                     die nicht spezialisiert versorgt wer-
        angeborenen Herzfehlern in Deutschland. Für                                   den, eine höhere Sterblichkeit haben“,
        das Projekt „OptAHF“ stellt die BARMER GEK                                    erklärt Studienleiter Gerhard-Paul
                                                        Abb.: iStockphoto.com © stefanamer
        anonymisierte Daten zur Verfügung, die einen                                  Diller, Oberarzt an der Klinik für Kar-
        Zeitraum von zehn Jahren abdecken. Insgesamt                                  diologie III – angeborene Herzfehler
        umfassen die Daten 2,8 Millionen Behand-                                      (EMAH) und Klappenerkrankungen
        lungsfälle pro Jahr und neun Millionen Kran-                                  des Universitätsklinikums Münster
        kenversicherte. Außerdem stehen den For-                                      (UKM).<     C HERZREGISTER.DE/REGISTER

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