Page 13 - xpress_Ausgabe 18.1
P. 13

Titelgeschichte




           Stirbt also das gedruckte Buch aus?                                 dem Arzt weiterhilft. „Social Reading ist ein
        Zumindest wenn es darum geht, sich in                                  Bedürfnis vieler Leser und Autoren“, stellt
        komplexe Themen oder neue Fachgebiete                                    Thomas fest.
        einzuarbeiten, führt am gedruckten Werk                                   Wie sehr sich das klassische Buch in den
        nach wie vor kein Weg vorbei. Sogar die                                kommenden Jahren verändern kann, zeigen die
          Digital Natives – die mit Smartphone und                             Überlegungen der Verlage im Bereich Multi-
        Internet aufgewachsen sind – bevorzugen bei                            media. Schon heute sind in den elektronischen
        der Vorbereitung auf eine Prüfung das ge-                              Medien neben Fotos und Illustrationen auch
        druckte Buch, weil sie sich beim Lesen langer                          kurze Videosequenzen und Animationen inte-
        Texte auf Papier besser konzentrieren können.                          griert. Käufer eines gedruckten Buchs müssen
        Dies hängt zum Teil auch damit zusammen,                               nicht auf bewegte Bilder verzichten. Sie foto-
        dass sie sich in einem Medium mit statischem                           grafieren mit dem Smartphone, je nach Verlag,
        Format – beim gedruckten Buch stehen die                                die Seite mit dem online verfügbaren Video
                                                 Abb.: iStockphoto.com © adventtr
        Abbildungen zum Beispiel immer an denselben                             ab, oder auch nur einen QR-Code, und bekom-
        Stellen – im Gegensatz zum flüssigen Bild-                               men den multimedialen Inhalt angezeigt, als
        schirmformat mit wechselnden Bildpositionen,                             ob sie das elektronische Buch lesen  würden.
        besser orientieren können.                                                  Bilder und Filmsequenzen kommen bei
           Klassische Nachschlagewerke hingegen                                   Ärzten offenbar gut an. Zumindest bei den
        werden zunehmend online und immer seltener                              finnischen Ärzten, berichtet Professor Andreas
        in gedruckter Form nachgefragt. Eine Ent-                              Sönnichsen vom Institut für  Allgemeinmedizin
        wicklung, die schon lange absehbar war. Der                            und Familienmedizin der Universität Witten/
        Thieme Verlag beispielsweise bietet den                                Herdecke. Die im staatlichen Gesundheitswe-
                                                       Klassische
        „RÖMPP“, ein zehnbändiges Chemielexikon,                               sen angestellten Mediziner greifen  während
        seit der Jahrtausendwende nicht mehr ge-                               der Sprechstunden ausgiebig auf die vom Staat
        druckt an. Bereits in den 1990er-Jahren gab   Nachschlagewerke         zur Verfügung gestellten EBM- Guidelines in-
                                                 werden zunehmend
        es den RÖMPP auf CD-ROM. 2002 gehörte er                               klusive der in den Leitlinien enthaltenen Filme
        zu den ersten Enzyklopädien im Onlineformat.                           zu. Dies belegen statistische Auswertungen
                                                  online nachgefragt.
        Der Grund für das Verschwinden der gedruck-                            über die millionenfache Nutzung. Sönnichsen
        ten Lexika liegt auf der Hand: Elektronische                           ist Teil des Expertenteams, das die deutsche
        Versionen lassen sich schneller aktualisieren                          Ausgabe der EBM-Guidelines betreut. Die Leit-
        und dadurch leichter auf dem neuesten Wis-  lung steht eine sehr komplexe Technologie,  linien auf der Basis von Übersichtsartikeln der
        sensstand halten. „Vom gedruckten RÖMPP  welche die Änderungen der Autoren weitge-  Cochrane Collaboration, Studien und interna-
        gab es alle sieben bis acht Jahre eine neue Auf-  hend automatisch einpflegt. „Manuell wären  tionalen Leitlinien werden von einem finni-
        lage“, sagt Hauff. „Als wir anfingen, ihn digital  solche Änderungen bei einem Verlagspro-  schen Verlag herausgegeben und an die deut-
        anzubieten, haben wir zunächst jedes Jahr eine  gramm mit jährlich 12 500 Buchneuerschei-  schen Verhältnisse angepasst.
        Ergänzung gemacht, später jedes Vierteljahr.  nungen nicht zu stemmen“, erklärt Thomas.
                                                                               Multimedia gewinnt an Bedeutung
        Dann haben wir die Ergänzung auf monatlich   Das Buch verändert sich zukünftig nicht nur
        heruntergefahren, und inzwischen gibt es alle  bezogen auf den Inhalt, sondern auch auf das  Die Multimediafähigkeiten sind vor allem für
        14 Tage ein  Update.“               Format. Zurzeit kommuniziert der Autor eines  Ärzte in der Aus- oder Weiterbildung interes-
           Was aber passiert mit Büchern, die es so-  Buchs in einer Richtung mit seinen Lesern,  sant. Ein Buch könnte mittels Audiodateien
        wohl gedruckt als auch elektronisch gibt?  indem er ihnen Wissen vermittelt. In Zukunft  zum Beispiel einem angehenden Kardiologen
        Springer Nature arbeitet bereits an „bewegli-  könnte die Kommunikation auch in die entge-  akustisch vorführen, wie ein Herzton oder eine
        cheren Büchern“, was bedeutet, dass die Fach-  gengesetzte Richtung verlaufen. Verlage wie  einzelne Herzklappe funktionieren. Simulati-
        verlagsgruppe zwischen zwei gedruckten  Springer Nature experimentieren bereits mit  onen, wie sie heute schon in Universitätsklini-
        Auflagen kleinere Änderungen an einzelnen  „Social Reading“ und überlegen, ob es sinnvoll  ken in der Anatomie stattfinden, könnten auch
        Kapiteln der Onlineausgabe vornehmen kann,  wäre, diese Technologie irgendwann einmal  in der Physiologie die Ausbildung unterstützen.
        die bibliotheksfest – zitierbar – sind. Das er-  in allen Büchern anzubieten. Beim Social  „Wir denken auch über Technologien im Be-
        öffnet den Weg für Fehlerkorrekturen und   Reading können die Leser elektronische Noti-  reich der virtuellen Realität nach“, sagt De
        kleinere Änderungen, sogar monatliche oder  zen an den Seitenrand des Buchs schreiben,  Gruyter-Manager Meinert, „beispielsweise,
        theoretisch sogar tägliche Aktualisierungen  die sie anderen Lesern – und damit auch dem  dass der Arzt mittels erweiterter Realität zu-
        wären denkbar. „Dabei müssen wir aber behut-  Autor – zugänglich machen. Ein Arzt könnte  sätzliche Informationen auf seinem Smart-
        sam vorgehen, damit wir beim Leser keine  beispielsweise in einem Kapitel, das eine be-  phone eingeblendet bekommt.“
        Verwirrung stiften und er nicht das Gefühl  stimmte Diagnose beschreibt, eine Randnotiz   De Gruyter plant, den Online-Pschyrembel
        bekommt, dass er von einem auf den anderen  erstellen, dass die beschriebenen Symptome  mit einer Reihe fachlich bezogener Anwen-
        Tag ein völlig anderes Buch liest“, sagt Thomas  bei seinem Patienten anders aussehen. Daraus  dungstools, beispielsweise in der Orthopädie,
        von Springer Nature. Hinter dieser Entwick-  könnte sich eine Diskussion entwickeln, die  Gynäkologie oder Pädiatrie, multimedial

                                                                                                             x.press 18.1   13
   8   9   10   11   12   13   14   15   16   17   18