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Titelgeschichte
Stirbt also das gedruckte Buch aus? dem Arzt weiterhilft. „Social Reading ist ein
Zumindest wenn es darum geht, sich in Bedürfnis vieler Leser und Autoren“, stellt
komplexe Themen oder neue Fachgebiete Thomas fest.
einzuarbeiten, führt am gedruckten Werk Wie sehr sich das klassische Buch in den
nach wie vor kein Weg vorbei. Sogar die kommenden Jahren verändern kann, zeigen die
Digital Natives – die mit Smartphone und Überlegungen der Verlage im Bereich Multi-
Internet aufgewachsen sind – bevorzugen bei media. Schon heute sind in den elektronischen
der Vorbereitung auf eine Prüfung das ge- Medien neben Fotos und Illustrationen auch
druckte Buch, weil sie sich beim Lesen langer kurze Videosequenzen und Animationen inte-
Texte auf Papier besser konzentrieren können. griert. Käufer eines gedruckten Buchs müssen
Dies hängt zum Teil auch damit zusammen, nicht auf bewegte Bilder verzichten. Sie foto-
dass sie sich in einem Medium mit statischem grafieren mit dem Smartphone, je nach Verlag,
Format – beim gedruckten Buch stehen die die Seite mit dem online verfügbaren Video
Abb.: iStockphoto.com © adventtr
Abbildungen zum Beispiel immer an denselben ab, oder auch nur einen QR-Code, und bekom-
Stellen – im Gegensatz zum flüssigen Bild- men den multimedialen Inhalt angezeigt, als
schirmformat mit wechselnden Bildpositionen, ob sie das elektronische Buch lesen würden.
besser orientieren können. Bilder und Filmsequenzen kommen bei
Klassische Nachschlagewerke hingegen Ärzten offenbar gut an. Zumindest bei den
werden zunehmend online und immer seltener finnischen Ärzten, berichtet Professor Andreas
in gedruckter Form nachgefragt. Eine Ent- Sönnichsen vom Institut für Allgemeinmedizin
wicklung, die schon lange absehbar war. Der und Familienmedizin der Universität Witten/
Thieme Verlag beispielsweise bietet den Herdecke. Die im staatlichen Gesundheitswe-
Klassische
„RÖMPP“, ein zehnbändiges Chemielexikon, sen angestellten Mediziner greifen während
seit der Jahrtausendwende nicht mehr ge- der Sprechstunden ausgiebig auf die vom Staat
druckt an. Bereits in den 1990er-Jahren gab Nachschlagewerke zur Verfügung gestellten EBM- Guidelines in-
werden zunehmend
es den RÖMPP auf CD-ROM. 2002 gehörte er klusive der in den Leitlinien enthaltenen Filme
zu den ersten Enzyklopädien im Onlineformat. zu. Dies belegen statistische Auswertungen
online nachgefragt.
Der Grund für das Verschwinden der gedruck- über die millionenfache Nutzung. Sönnichsen
ten Lexika liegt auf der Hand: Elektronische ist Teil des Expertenteams, das die deutsche
Versionen lassen sich schneller aktualisieren Ausgabe der EBM-Guidelines betreut. Die Leit-
und dadurch leichter auf dem neuesten Wis- lung steht eine sehr komplexe Technologie, linien auf der Basis von Übersichtsartikeln der
sensstand halten. „Vom gedruckten RÖMPP welche die Änderungen der Autoren weitge- Cochrane Collaboration, Studien und interna-
gab es alle sieben bis acht Jahre eine neue Auf- hend automatisch einpflegt. „Manuell wären tionalen Leitlinien werden von einem finni-
lage“, sagt Hauff. „Als wir anfingen, ihn digital solche Änderungen bei einem Verlagspro- schen Verlag herausgegeben und an die deut-
anzubieten, haben wir zunächst jedes Jahr eine gramm mit jährlich 12 500 Buchneuerschei- schen Verhältnisse angepasst.
Ergänzung gemacht, später jedes Vierteljahr. nungen nicht zu stemmen“, erklärt Thomas.
Multimedia gewinnt an Bedeutung
Dann haben wir die Ergänzung auf monatlich Das Buch verändert sich zukünftig nicht nur
heruntergefahren, und inzwischen gibt es alle bezogen auf den Inhalt, sondern auch auf das Die Multimediafähigkeiten sind vor allem für
14 Tage ein Update.“ Format. Zurzeit kommuniziert der Autor eines Ärzte in der Aus- oder Weiterbildung interes-
Was aber passiert mit Büchern, die es so- Buchs in einer Richtung mit seinen Lesern, sant. Ein Buch könnte mittels Audiodateien
wohl gedruckt als auch elektronisch gibt? indem er ihnen Wissen vermittelt. In Zukunft zum Beispiel einem angehenden Kardiologen
Springer Nature arbeitet bereits an „bewegli- könnte die Kommunikation auch in die entge- akustisch vorführen, wie ein Herzton oder eine
cheren Büchern“, was bedeutet, dass die Fach- gengesetzte Richtung verlaufen. Verlage wie einzelne Herzklappe funktionieren. Simulati-
verlagsgruppe zwischen zwei gedruckten Springer Nature experimentieren bereits mit onen, wie sie heute schon in Universitätsklini-
Auflagen kleinere Änderungen an einzelnen „Social Reading“ und überlegen, ob es sinnvoll ken in der Anatomie stattfinden, könnten auch
Kapiteln der Onlineausgabe vornehmen kann, wäre, diese Technologie irgendwann einmal in der Physiologie die Ausbildung unterstützen.
die bibliotheksfest – zitierbar – sind. Das er- in allen Büchern anzubieten. Beim Social „Wir denken auch über Technologien im Be-
öffnet den Weg für Fehlerkorrekturen und Reading können die Leser elektronische Noti- reich der virtuellen Realität nach“, sagt De
kleinere Änderungen, sogar monatliche oder zen an den Seitenrand des Buchs schreiben, Gruyter-Manager Meinert, „beispielsweise,
theoretisch sogar tägliche Aktualisierungen die sie anderen Lesern – und damit auch dem dass der Arzt mittels erweiterter Realität zu-
wären denkbar. „Dabei müssen wir aber behut- Autor – zugänglich machen. Ein Arzt könnte sätzliche Informationen auf seinem Smart-
sam vorgehen, damit wir beim Leser keine beispielsweise in einem Kapitel, das eine be- phone eingeblendet bekommt.“
Verwirrung stiften und er nicht das Gefühl stimmte Diagnose beschreibt, eine Randnotiz De Gruyter plant, den Online-Pschyrembel
bekommt, dass er von einem auf den anderen erstellen, dass die beschriebenen Symptome mit einer Reihe fachlich bezogener Anwen-
Tag ein völlig anderes Buch liest“, sagt Thomas bei seinem Patienten anders aussehen. Daraus dungstools, beispielsweise in der Orthopädie,
von Springer Nature. Hinter dieser Entwick- könnte sich eine Diskussion entwickeln, die Gynäkologie oder Pädiatrie, multimedial
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