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Titelgeschichte




        INTERVIEW         DIGITALISIERUNG MUSS SINN ERGEBEN

          Jens Naumann ist Geschäftsführer von medatixx, einem der führenden Anbieter im Bereich IT-Lösungen für Arztpraxen und
          Medizinische Versorgungszentren. Quo vadis, digitales Gesundheitswesen, Herr Naumann?



          Î 	Warum kriegen so viele niedergelassene Ärztinnen und Ärzte schlech-  Anwendungen, die den Praxen nicht oktroyiert, son-  Abb.: medatixx
          te Laune, wenn sie Digitalisierung hören?          dern von ihnen freiwillig genutzt werden, um ihren   JENS NAUMANN
                                                                                                 Geschäftsführer medatixx
          Die Antwort ist simpel: Das liegt daran, dass der verpflichtende Teil der Digi-  Alltag zu verbessern. Dieses Gefühl kommt bei einer
          talisierung seit vielen Jahren als unabgestimmtes Stückwerk in die Versor-  eAU, bei einem elektronischen Notfalldatensatz, dem eRezept oder auch bei
          gung gedrückt wird. Die meisten digitalen Geschäftsvorfälle passen schlicht   der derzeitigen Version der ePA einfach nicht auf.
          nicht besonders gut zusammen. Das Ergebnis ist, dass die Praxen sich mit ei-
          nem Wust nicht harmonisierter Einzelanwendungen konfrontiert sehen, die   Î 	Aus der Politik ist mitunter zu hören, dass TI-Anwendungen nicht gut
          noch dazu oftmals eher eine Elektrifizierung der analogen Vorbilder als echte  genug umgesetzt werden. Forderungen, den Markt stärker zu regulieren,
          nutzenstiftende Digitallösungen sind. Wenn Digitalisierung akzeptiert wer-  werden laut. Würde eine staatliche Einheits-IT helfen?
          den soll, dann muss sie einen echten Sinn ergeben und einer gesamthaften   Als Hersteller sind wir mit demselben Wust an Anwendungen konfrontiert
          Konzeption folgen.                                 wie die Praxen. Wer schlecht bis gar nicht aufeinander abgestimmte oder
                                                             realitätsfremde Einzelanwendungen per verpflichtender Spezifikation in Auf-
          Î 	Sind Ärztinnen und Ärzte vielleicht einfach Digitalisierungsmuffel?  trag gibt, der muss sich nicht wundern, wenn er am Ende genau das be-
          Wir entwickeln seit über zwei Jahrzehnten Praxissoftware für Arztpraxen. Ich  kommt. Marktvielfalt ist eine Stärke und eine zwingende Voraussetzung für
          kann versichern, dass die Ärzteschaft nicht digitalisierungsfeindlich ist. Sie ist  Innovation und Preiswettbewerb; dies kann ich auch aus den ersten 24 Jah-
          auch nicht desinteressiert an Technik; im Gegenteil, viele sind ausgesprochen  ren meines Lebens als DDR-Bürger aus eigener Erfahrung bestätigen.
          technikaffin. Sie wollen nur nicht dauernd mit – ich zitiere eine Kundin –
          „Nonsens-Digitalisierung“ genervt werden.          Î 	Was muss passieren, damit das Gesundheitswesen aus dem digitalen
                                                             Tal der Tränen herausfindet?
          Î 	Was macht Sie da so sicher?                     Nach unserer Überzeugung muss die ePA ins Zentrum der Digitalisierung der
          Unter anderem, dass es viele Anwendungen gibt, die eine hohe Akzeptanz   Versorgung rücken. Alle anderen Anwendungen müssen dort andocken. Sie
          genießen. Der Klassiker sind Radiologinnen und Radiologen, die sich mittler-  muss eine Plattform sein, aus der heraus sich Anwendungen entwickeln, die
          weile in großer Zahl bei der Befundung von Algorithmen unterstützen lassen.  für die Versorgung wirklich etwas bringen – und die nicht zusätzlich Bürokra-
          Aber es geht weit darüber hinaus: Die Nutzung von Spracherkennung wird   tie erzeugen. Das zu ermöglichen, ist Aufgabe von Politik und gematik. Mit
          zunehmend universell; die Online-Terminvergabe ist zumindest in einigen   der derzeitigen ePA geht das nicht. Herstellerseitig gilt es dann, die „neue“
          Fachrichtungen fest etabliert. In der Pandemie haben sich innerhalb kürzes-  ePA mit der Praxis-IT so zu verzahnen, dass sich die Arbeit wie aus einem
          ter Zeit die Videosprechstunden durchgesetzt. Beim besten Willen: Ich kann   Guss anfühlt. Wenn wir das gemeinsam schaffen, wird der TI-Frust ver-
          da keine Ablehnung oder Skepsis erkennen. Aber das sind eben alles auch   schwinden, davon bin ich fest überzeugt.<




        der Arzt und sein Team besonders leidenschaft-  minbuchung wird in vielen Tausend Praxen  Distanz zu beurteilen: „Ich habe das in die letz-
        liche Telefonierer wären. Bevorzugt wird die  geschätzt und genutzt – es hängt ein wenig von  te Teamsitzung gegeben, damit sich alle einmal
        Terminanfrage per E-Mail. Demnächst wird  der Art der angebotenen Leistungen, von der  Gedanken darüber machen. Wir könnten un-
        zusätzlich auf der Praxis-Website ein Kontakt-  Lage der Praxis und von der Zusammenset-  sere NäPA mit einer solchen Brille ausrüsten.
        formular für Terminanfragen geschaffen, um  zung des Patientenkollektivs ab.   Oder wir versuchen, Pflegeheime davon zu
        unnötige Telefonate zu vermeiden.     Ähnlich ist es bei einer anderen digitalen  überzeugen, eine Brille zu nutzen, damit wir
                                           Anwendung, der Videosprechstunde: Viele be-  nicht bei jedem Ödem oder für jede Wundkon-
        Genutzt wird, was gut funktioniert  trachten sie als sinnvolle Ergänzung des Ange-  trolle hinfahren müssen.“
        Das Beispiel mit der Terminierung zeigt schön,  botsspektrums ihrer Praxis und setzen sie –   Wenn Bodendieck über „Digitalisierung“
        wie Ä� rztinnen und Ä� rzte Digitalisierung ein-  unterschiedlich organisiert – im Alltag ein.  redet, dann meint er nicht die elektronische
        setzen und was sie von Digitalisierung erwar-  Bodendieck tut das nicht, weil er nicht davon  Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU), das
        ten: Das, was am Ende rauskommt, muss bes-  überzeugt ist, dass der Älltag dadurch effizi-  elektronische Notfalldatenmanagement
        ser funktionieren als das, was vorher gemacht  enter wird. Das heißt aber nicht, dass er tele-  (NFDM), den elektronischen Medikationsplan
        wurde – „besser“ für die Abläufe in der Praxis,  medizinischen Lösungen ablehnend gegen-  (eMP) oder irgendeine andere einzelne Anwen-
        „besser“ für die Patientinnen und Patienten,  überstehen würde. Im Gegenteil, aktuell lieb-  dung der TI. Er redet über das große Ganze:
        „besser“ für die Stimmung im Team. Was genau  äugelt das Team mit der Anschaffung einer  „Digitalisierung ist ein riesiges Feld, und diese
        jeweils „besser“ funktioniert, ist von Praxis zu  Videobrille. Die Brille würde es den Ärztinnen  Anwendungen sind nur ein ganz kleiner Teil
        Praxis verschieden. Die Ergänzung eines digi-  und Ärzten in der Praxis komfortabler als die  davon.“ Mit Digitalisierung meint Bodendieck
        talen Terminkalenders um eine Online-Ter-  iPad-Kamera ermöglichen, Hautbefunde auf  kontaktloses Blutdruckmonitoring, automati-

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