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Titelgeschichte




          Danach, auch diese Phase des Strategiepro-  kann man nicht oktroyieren, das hat schon die  werden. Unabhängig davon spielen einige Kran-
        zesses ist längst vorbei, gab es zu den Hand- letzten 20 Jahre nicht funktioniert.“  kenkassen mit dem Gedanken, den elektroni-
        lungsfeldern insgesamt acht Workshops. Die   Eher gemischte Gefühle hat Andreas  schen Personalausweis als eID zu nutzen. Bei der
        waren wiederum nicht frei zugänglich, sondern   Strausfeld. Der Vorsitzende der Geschäftsfüh-  BKK pronova ist das gerade Realität geworden.
        es wurden zu den jeweiligen Handlungsfeldern  rung des IT-Dienstleisters BITMARCK, in Ko-
                                                                               ePA: vom Opt-in zum Opt-out
        ausgewählte Expertinnen und Experten sowie  operation mit dem österreichischen Unterneh-
        Repräsentantinnen und Repräsentanten rele-  men RISE, ist ein wichtiger Akteur bei den  Der Baustellen noch nicht genug, ist gleichzeitig
        vanter Organisationen gezielt eingeladen. Mit  elektronischen Patientenakten: „Wir erwarten,  im Koalitionsvertrag ein Wechsel der ePA-Logik
        anderen Worten: Frei partizipieren konnte Bür-  dass es endlich mit Schwung vorwärtsgeht.“  vorgesehen: von einem System, bei dem nur die-
        gerin und Bürger nur in einigen wenigen Wo-  Der Strategieprozess könne dabei einerseits  jenigen eine ePA erhalten, die sie aktiv anfordern
        chen im September. Danach waren Verbands-  helfen. Andererseits sieht Strausfeld die Gefahr,  („Opt-in“), hin zu einem System, bei dem jede und
        vertreter, Repräsentanten von Patientenorga-  dass gerade bei der ePA im Dienst ferner Zu-  jeder eine ePA erhält, die oder der nicht aktiv wi-
        nisationen, Industrievertreter, Datenschützer,  kunftsvisionen à la digitaler Zwilling zu viele  derspricht („Opt-out“). Nur ein solches Opt-out-
        Leistungserbringer, Techniker unter sich, die                          System macht es überhaupt denkbar, dass 80
        sich überwiegend schon gekannt haben dürften.   „Schweigen scheint     Prozent der GKV-Versicherten bis 2025, dem Jahr
        Klappt das?                              mir im Moment der             der nächsten Bundestagswahl, eine ePA besitzen.
                                                                               Und das wiederum ist ein Ziel, das die Ampelko-
                                                    bessere Weg.“
        Ob der straffe und in der Gesamtschau zumin-                           alition als Ganzes – auf Wunsch des BMG – in ihre
        dest nicht sehr stark partizipative Strategiepro-                      im Frühjahr vorgelegte, branchenübergreifende
        zess am Ende zum gewünschten Erfolg führt,  Dinge wieder aufgeschnürt werden, die in den  Digitalstrategie aufgenommen hat.
        werden die nächsten Wochen zeigen. „Was ich  letzten Jahren mühsam abgestimmt wurden   Soll das geschafft werden, dann darf die
        mir wünschen würde, ist, dass wir ein gemein-  – was am Ende nur zu weiteren Verzögerungen  derzeit in Ärbeit befindliche Digitalstrategie
        sames Bild davon entwickeln, wo wir eigentlich  in einem Land führen würde, das im interna-  für das Gesundheitswesen der TI oder der
        hinwollen, und dass wir daraus dann ableiten  tionalen Vergleich ohnehin schon spät dran ist.    gematik jedenfalls nicht allzu viele Knüppel
        können, welche Entscheidungen wir treffen und                          zwischen die Beine werfen. „Aus meiner Sicht
                                           Handlungsbedarf an allen Ecken und Enden
        wie wir die begrenzten Ressourcen priorisie-                           sollte die gematik so schnell wie möglich – früh
        ren“, skizzierte Susanne Ozegowski ihre Erwar-  Denn Strategie hin oder her, bei der Telematik-  in 2023 – eine verbindliche Spezifikation für
        tungen.  Die  Digitalisierungschefin  des  BMG  infrastruktur und ihren Anwendungen gibt es  die neue ePA vorlegen, damit bereits am
        sieht das deutsche Gesundheitswesen in Sachen  in den nächsten Monaten Handlungsbedarf an  1. Januar 2024 der Schalter auf Opt-out gelegt
        Digitalisierung derzeit in einem Berliner-Flug-  allen Ecken und Enden. Es steht letztlich ein  werden kann – und nicht erst 2025“, sagt
        hafen-Narrativ gefangen, aus dem nur schwer  Systemwechsel an, und der muss irgendwie   BITMARCK-Chef Andreas Strausfeld.
        herauszukommen ist: „Dieses Narrativ müssen  parallel zur Strategieentwicklung vonstatten-
                                                                               Strategie? Oder wie?
        wir durchbrechen. Die Chancen der Digitalisie-  gehen. Betroffen sind davon in erster Linie die
        rung liegen auf der Hand, wir müssen sie jetzt  ePA und das Infrastrukturthema der digitalen  Was bleibt, ist ein etwas zwiespältiges Gefühl im
        nutzen.“                           Identitäten. Letzteres wiederum betrifft dann  Hinblick auf den Strategieprozess, der im deut-
          Von Patientinnen und Patienten sowie Bür-  praktisch alle anderen TI-Anwendungen.   schen Gesundheitswesen läuft und der dem-
        gerinnen und Bürgern kommen positive Rück-  Bei der ePA hat die gematik im Sommer den  nächst zumindest vorläufig zu Ende gehen wird.
        meldungen, sofern sie von dem Strategieprozess  Krankenkassen verboten, ihre Versicherten per  Enden wird er, so viel steht fest, mit der Veröf-
        wussten und daran partizipieren konnten – im-  Video-Ident-Verfahren zu identifizieren. Seither  fentlichung eines oder mehrerer Dokumente und
        mer aber auch der Hinweis, dass das alles nur  ist die vorher schon nicht beeindruckende Dyna-  – wahrscheinlich – eines Maßnahmenkatalogs.
        ein Anfang sein könne (siehe Interview). Indus-  mik bei der Zahl der ePA-Nutzerinnen und -Nut-  Dieser wird möglicherweise weniger IT-Themen
        trieseitige Reaktionen sind eher durchwachsen,  zer – derzeit rund eine halbe Million – komplett  und technisch-architektonische Fragen in den
        wobei natürlich nicht jedes Unternehmen oder  erlahmt. Im Herbst legten dann die Datenschüt-  Mittelpunkt stellen, könnte dafür aber umso
        jeder Verband an jedem Workshop beteiligt war.  zer noch einen drauf: Die sogenannte alternative  mehr mit Kommunikation, Akzeptanzbildung
        „Schweigen scheint mir im Moment der bessere  Versichertenidentität (al.vi), die es den Versicher-  und Nutzereinbindung zu tun haben.
        Weg“, sagt ein nicht ganz unprominenter Bran-  ten bisher erlaubt, sich ohne eGK bei ihrem   Viele Konjunktive an dieser Stelle, und eine
        chenvertreter, der nicht namentlich genannt  ePÄ-System anzumelden, läuft Ende 2022 mit  ganze Menge Rahmenbedingungen, die die
        werden will. Melanie Wendling, neue Geschäfts-  einer Übergangsfrist zum ersten Quartal 2023  Formulierung einer Strategie in einem parti-
        führerin des Gesundheits-IT-Branchenverbands  aus, was die Nutzerfreundlichkeit der ePA deut-  zipativen Prozess nicht unbedingt einfacher
        bvitg, betont die positive kommunikative Di-  lich verschlechtern wird. Mittlerweile gibt es von  machen. Aber Strateginnen und Strategen ge-
        mension des Prozesses: „Ich habe den Eindruck,  der Betreiberorganisation der TI, der zu 51 Pro-  hen auch nicht deswegen in die Geschichtsbü-
        dass es einen breiten Veränderungswillen gibt,  zent bundeseigenen gematik, ein Konzept für eine  cher ein, weil sie es sich einfach machen, son-
        und der erhält durch den Strategieprozess etwas  kartenlose digitale ID (eID) im Gesundheitswe-  dern weil sie – wie Themistokles vor Salamis
        Momentum. Das Wichtigste ist, dass wir an ei-  sen. Das muss aber zunächst einmal mit den Da-  – in komplexen, um nicht zu sagen aussichts-
        nen Punkt kommen, an dem sich alle einig sind,  tenschützern und dem Bundesamt für Sicherheit  losen Situationen geniale und oft unerwartete
        dass sie Digitalisierung wollen. Digitalisierung  in der Informationstechnik (BSI) abgestimmt  Entscheidungen treffen.<     $ PHILIPP GRÄTZEL

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