Page 12 - xpress_Ausgabe 23.1
P. 12

Titelgeschichte




        INTERVIEW         DIE BEVÖLKERUNG MUSS SICH EINGEBUNDEN FÜHLEN

          Marcel Weigand, Leiter Kooperationen und digitale Transformation bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland
          und freier Berater, fordert, dass der Nutzen der digitalen Anwendungen stärker erkennbar sein muss.



          Î 	Wie bewerten Sie als Bürger, als Versicherter, den laufenden    deten Urbanen. Ich bin gespannt, ob die Digitalstra-
          Strategieprozess?                                  tegie uns in diesem Punkt weiterbringt. Ich hoffe es   MARCEL WEIGAND
                                                                                                 Unabhängige Patienten-
          Ich halte es für sehr positiv, dass versucht wird, eine breitere Anbindung zu   sehr. Anwendungen sollten aber auch vom ersten   beratung Deutschland
          erzeugen und vielfältige Stimmen und Institutionen einzubinden. Wie gut   Schritt an nutzerzentriert entwickelt werden. Auch
          das am Ende gelingt, müssen wir sehen. Aufseiten der Selbstverwaltung ist   das könnte ein Ziel der Strategie sein. An den aktuellen TI-Anwendungen   Abb.: Unabhängige Patientenberatung Deutschland
          es ja eher nicht so, dass in den letzten 20 Jahren zu wenig Einflussnahme   scheitern selbst digital affine Menschen.
          existierte. Insofern ist die Bewertung zweischneidig: Vielfalt ist wichtig für
          die Akzeptanz von E-Health-Anwendungen, aber die Digitalisierung erfor-  Î 	Ein Punkt, der als Komponente der Digitalstrategie politisch gesetzt
          dert in einigen Fällen auch mutige Entscheidungen, bei denen vielleicht   zu sein scheint, ist der Wechsel der ePA vom derzeitigen Opt-in- auf ein
          nicht alle mitgehen können oder wollen.            Opt-out-Modell. Richtig so?
                                                             Ich halte das für richtig, aber klar ist auch, dass die ePA dazu deutlich aus-
          Î 	Was ist aus Ihrer Sicht das Ziel dieses Strategieprozesses?  und umgebaut werden muss. Zum einen braucht es eine Verpflichtung für
          Neben den im Gesundheitswesen Tätigen muss sich auch die Bevölkerung   medizinische Einrichtungen, bestimmte Daten dann auch einzustellen.
          am Ende mitgenommen und eingebunden fühlen. Und es muss in der Brei-  Zum anderen sollten wir, glaube ich, endlich stärker den Plattformgedan-
          te klar sein, worin der Nutzen eines digitalen Gesundheitswesens besteht.   ken verankern. Es fehlt der ePA im Moment an alltagsrelevanten, nützli-
          Ich bin mir fast sicher, wenn wir heute fragen, warum wir eigentlich ein di-  chen Funktionen. Dokumente ablegen ist schön und gut, aber solange es
          gitales Gesundheitswesen brauchen, dann täten sich viele schwer mit der   nicht Funktionen wie Arzt- und Kliniksuchen, Online-Terminbuchung oder
          Antwort. Das muss sich ändern, wenn wir vorankommen wollen. Die   auch Videosprechstunden im ePA-Kontext gibt, bleibt die ePA ein wenig
            E-Health-Strategie muss die Klammer für alle Maßnahmen und Anwendun-  inspirierendes Ablagefach. Das viel zitierte „die richtige Information zur
          gen bilden.                                        richtigen Zeit am richtigen Ort“ ist als unmittelbarer Vorteil jedenfalls
                                                             noch nicht direkt erfahrbar, da die ePA nur von wenigen Praxen genutzt
          Î 	Ein paar Workshops werden dazu aber nicht reichen.  und befüllt wird.
          Nein. Ich glaube, es braucht mehrere Dinge. Ein Vorschlag, den ich an meh-
          reren Stellen eingebracht habe, ist eine Art One-Pager, der in einfacher   Î 	Was würden Sie sich noch wünschen als unmittelbares Ergebnis des
          Sprache und attraktiv aufgemacht zusammenfasst, worum es eigentlich   Strategieprozesses?
          geht. Das kann aber auch nur ein erster Schritt sein. Letztlich muss es darum  Eine gute E-Health-Strategie sollte so etwas wie eine Schrittmacherfunktion
          gehen, die digitale Gesundheitskompetenz auf breiter Front zu fördern. Das   haben. Damit sie das leisten kann, sollte sie meines Erachtens mit konkreten
          Patientendaten-Schutz-Gesetz von 2020 hat dafür im § 20k SGB V im Prinzip   Versorgungszielen untermauert sein. Einige Länder machen das so. Solche
          eine Grundlage geschaffen. Das, was da bisher passiert, reicht aber nicht,   Ziele könnten zum Beispiel die Reduktion von medikationsfehlerbedingten
          und es richtet sich vor allem an digital affine Menschen. Aktuelle Umfragen   Klinikeinweisungen sein, um nur ein Beispiel zu nennen. Wenn wir das hät-
          zeigen, dass der „Digital Health Gap“ zuletzt eher größer geworden ist, sie-  ten, dann wäre die Strategie nicht nur eine schöne Vision, sondern länger-
          he Nutzung von Videosprechstunden. Digitale Kompetenz muss da aufge-  fristig immer auch eine Erfolgskontrolle, die anzeigt, was funktioniert und
          baut werden, wo der größte Bedarf ist. Das sind nicht die jungen, gut gebil-  wo mit konkreten Schritten nachgebessert werden muss.<





        solle das deutsche Gesundheitswesen  künftig  allzu tief in die Abgründe des deutschen Ge-  beziehen. Sundhed verzeichnet aktuell rund
        klinische Studien mit virtuellen Kontrollgrup-  sundheitswesens hinunterzubewegen. Eines  9 Millionen Zugriffe pro Monat bei 5,8 Millio-
        pen durchführen können, um die Forschung  seiner Lieblingsländer ist Dänemark. Von dort  nen Einwohnern.
        – in dem Fall zur Impfstoffentwicklung – zu  hatte sich das Ministerium Morten Pedersen   Pedersen gab sich klar als Strategiefan zu
        beschleunigen und nicht für jede Fragestellung  nach Berlin geholt, seit Jahren einer der pro-  erkennen, was der deutschen Politik natürlich
        eine zeitraubende, randomisierte Studie zu  fundesten Kenner des digitalen dänischen  in die Karten spielte, und so war es auch ge-
        benötigen. Man spürte in Berlin förmlich, wie  Gesundheitswesens. Es besteht aus einer in  dacht: „Unsere E-Health-Strategie war der
        die Strategiearchitektinnen und -architekten  weiten Teilen dezentralen, für alle Berechtig-  wichtigste Treiber für die Digitalisierung und
        anfingen, zu schwitzen.            ten zugänglichen elektronischen Akte und  wird das auch in Zukunft sein.“ Zu den Erfolgs-
                                           dem nationalen Gesundheitsportal Sundhed  rezepten der dänischen Digitalisierung zähle,
        Inspiration aus Dänemark …         („Gesundheit“), kürzlich ergänzt um die mo-  so Pedersen, eine einheitliche Bürger-ID, die
        Ü� berhaupt, das Äusland: Wenn Lauterbach  bile App MyHealth, die es den Bürgerinnen  nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch
        über Strategien spricht, dann lässt er gern an-  und  Bürgern  Dänemarks  erlaubt,  viele  ge-  in anderen Bereichen genutzt werde, außerdem
        dere Länder sprechen und vermeidet es, sich  sundheitsbezogene Dienstleistungen mobil zu  eine Kultur des Vertrauens, die es möglich

    12   x.press 23.1
   7   8   9   10   11   12   13   14   15   16   17