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Titelgeschichte
INTERVIEW „WIR BRAUCHEN DRINGEND EIN EVIDENZKONZEPT“
Am Fast-Track-Verfahren für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) scheiden sich die Geister.
Bündnis 90/Die Grünen stören sich nicht zuletzt daran, dass Qualität und Versorgungsnutzen hintanstehen.
Î ÎDas Bundesgesundheitsministerium startet bei der Digitalisierung Ärzte. Bündnis 90/Die Grünen schlagen nach MARIA KLEIN-SCHMEINK
eine Initiative nach der anderen. Viele sind davon geradezu begeistert. britischem Vorbild vor, den G-BA mit der Mitglied des Deutschen Bundes-
Warum sehen Bündnis 90/Die Grünen das kritisch? Erstellung eines Evidenzkonzepts für digitale tags und gesundheitspolitische Abb.: MARIA KLEIN-SCHMEINK
Sprecherin der Bundestagsfrakti-
Unserer Auffassung nach ist das in weiten Teilen Aktionismus. Es gibt keinen Gesundheitsanwendungen zu beauftragen. on von Bündnis 90/Die Grünen.
übergeordneten Plan, und die eigentlichen Aufgaben werden nicht ange- Ist der G-BA dafür die richtige Adresse?
gangen. Ins Gesetz zu schreiben, dass Ärzte Gesundheits-Apps zur Verfü- Wir haben genau das Problem, dass es keine Trennschärfe zwischen den
gung stellen sollen, ersetzt keine Strategie. Es fehlen transparente Ziele. Es Medizinprodukteklassen gibt. Nehmen Sie Anwendungen, die auf Basis auch
fehlt eine Instanz, die glaubwürdig Normen wie etwa inhaltliche Standards anderweitig in der Medizin eingesetzter Fragebögen einen Diagnoseab-
setzen kann. Und es fehlt vor allem an Koordination. Was die digitale Ge- gleich machen, zum Beispiel bei Depression. Da stellt sich die Frage, wann
samtstrategie angeht, plädieren wir für eine Bundesagentur, die den gesetz- so eine Anwendung beginnt, diagnostisch zu sein. Diese Abgrenzung ist
lichen Auftrag hat, alle an einen Tisch zu holen, Ziele zu formulieren und sehr wichtig, und deswegen brauchen wir so dringend ein Evidenzkonzept.
diese dann im Wechselspiel mit den relevanten Akteuren umsetzt. Ob das der G-BA macht oder jemand Unabhängiges oder das BfArM, darüber
kann man streiten. Grundsätzlich halte ich es aber für schwierig, wenn wir
Î ÎWie stehen Sie zu dem sogenannten Fast-Track-Verfahren, bei dem das uns bei einem Teil der digitalen Anwendungen bei der Nutzenbewertung
BfArM eine Liste digitaler Medizinprodukte kuratiert, die dann in der GKV und der Evidenzfeststellung völlig loslösen von dem Vorgehen bei anderen
erstattungsfähig sind? Behandlungsmethoden.
Dieses Verfahren wird, so wie es im Moment angelegt ist, allenfalls Datensi-
cherheit und Funktionalität überprüfen können. Wir werden keine sinnvol- Î ÎWas wünschen Sie sich in Sachen Patienteneinbindung von weiteren
len Aussagen zum Versorgungsnutzen bekommen. Und genau das halte ich Spahnschen Gesetzen?
für ein großes Problem. Wir können nicht einfach irgendwelche Anwendun- Die Patienteneinbindung ist im Moment die ganz große Leerstelle, und das
gen nur auf Basis von Plausibilität in die Versorgung bringen, ohne dass muss sich unbedingt ändern. Patienten müssen unter anderem in den Gre-
Nutzen und Patientensicherheit angemessen nachgewiesen wurden. Wenn mien, in denen es darum geht, die Features einer elektronischen Patienten-
wir von Apps reden, die zum Beispiel in irgendeiner Weise Diagnosen vor- akte festzulegen, permanent eingebunden werden. Es reicht nicht, gele-
nehmen, dann können die nicht einfach ohne ärztliche Verordnung bezie- gentlich Patienten in den Beirat einzuladen und anderthalb Stunden lang
hungsweise ohne Einbindung in ein Behandlungskonzept eingesetzt oder vorzutragen, was man vorhat. Wie wenig ernst es das derzeitige Bundesge-
von den Krankenkassen zur Verfügung gestellt werden. sundheitsministerium mit der Patienteneinbindung nimmt, zeigt ja schon
der Versuch, eine ePA ohne detailliertes Rechte- und Zustimmungskonzept
Î ÎDass medizinische Qualität im Zusammenhang mit Gesundheits-Apps einzuführen. Das ist Jens Spahn zu Recht um die Ohren geflogen, aber ich
politisch nicht thematisiert wird, ist ja auch ein wichtiger Kritikpunkt der bin mir nicht sicher, ob er wirklich etwas daraus gelernt hat.<
noch hinzu. So wird das Bundesgesundheitsmi- auswertbar waren. Künftig soll es noch ein Jahr rieren, aber sie dürfen keine entsprechenden
nisterium ermächtigt, Standards für die Daten- sein. Auch der Datenkranz wird reichhaltiger. Unternehmen allein gründen. Es muss viel-
übermittlung im Gesundheitswesen festzule- Unter anderem sollen die natürlich pseudony- mehr eine fachlich-inhaltliche Kooperation
gen, und die Kassenärztliche Bundesvereini- misierten Datensätze künftig auch OPS-Codes, mit Dritten geben, wobei „Leistungserbringer
gung muss ab 1. Januar 2021 ambulante also medizinische Prozeduren, enthalten. und Gemeinschaften von Leistungserbrin-
IT-Systeme spezifisch im Hinblick auf die Ein- Viel Kritik erntete der ursprüngliche Ent- gern“ explizit genannt werden. Buchstäblich
haltung technischer und inhaltlicher Standards wurf des DVG für jene Passagen, in denen es auf den allerletzten Metern des DVG haben die
bestätigen. Ein analoges Bestätigungsverfah- um die Innovationsförderung durch Kranken- Parlamentarier der Regierungsfraktionen im
ren, das bei der gematik angesiedelt ist, wird es kassen ging. Diese dürfen gemäß § 263a SGB V § 68b SGB V noch einen klärenden Satz einge-
für Krankenhaus-IT-Systeme geben. und § 68 SGB V künftig bis zu zwei Prozent fügt, der sicherstellen soll, dass Grundprinzi-
Ausgebaut wird auch die Forschung mit ihrer Finanzreserven zur Förderung digitaler pien der Versorgung im deutschen Gesund-
GKV-Abrechnungsdaten. Hier wird die bisher Innovationen in Anteile an Investmentvermö- heitswesen durch die digitale Innovationsför-
beim DIMDI angesiedelte Forschungsdaten- gen anlegen. Als digitale Innovationen gelten derung nicht ausgehebelt werden. Er lautet:
stelle zum BfArM wandern, und die (gesetzlich dabei insbesondere digitale Medizinprodukte, „Ein Eingreifen in die ärztliche Therapiehoheit
schon seit 2004 mögliche) Versorgungsfor- telemedizinische Verfahren und IT-Tools für oder eine Beschränkung der Wahlfreiheit der
schung mit Routinedaten soll deutlich be- die Versorgung. Versicherten ist unzulässig.“<
schleunigt werden. Bisher vergingen rund vier Krankenkassen können bei digitalen Inno- $ PHILIPP GRÄTZEL
Jahre, bis Abrechnungsdaten wissenschaftlich vationen auch direkt mit Herstellern koope-
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